Ich stie? mit dem Rucken gegen das Gelander. So schnell wie moglich wollte ich jetzt den Dachboden verlassen. Als ich die oberste Stufe erreicht hatte, verrutschte der Teppich, der die Tur offen gehalten hatte, und die Tur fiel mit einem leisen Klicken ins Schloss. Ich stand in volliger Finsternis da.

Ich tastete mit meinem Fu? nach der nachsten Stufe, aber egal, wie weit ich ihn nach unten bewegte, ich konnte sie nicht erreichen. Die Treppe kam mir so leer wie ein Aufzugschacht vor. Obwohl ich allmahlich in Panik geriet, konnte ich mich nicht dazu durchringen, den Schritt in das scheinbare Nichts zu wagen.

»Danny!«, brullte ich. »Danny! Ich bin's, Daddy! Ich bin auf dem Speicher!«

Ich lauschte, horte aber keine Reaktion. Danny war so mude gewesen wie ich, und normalerweise konnte ihn nichts wecken, weder schwere Gewitter noch Musik noch seine Eltern, wenn sie sich lautstark stritten.

»Danny! Ich bin auf dem Speicher! Die Tur ist zugefallen!«

Wieder keine Reaktion. Ich bewegte mich an der obersten Stufe der Treppe entlang und klammerte mich an das Gelander, das meine einzige Orientierung darstellte. Ich versuchte, meine Augen so sehr anzustrengen, wie es mir nur moglich war, aber es gab nicht das mindeste Licht auf dem Dachboden. Es war schwarzer als unter einem Berg von Bettdecken.

»Danny!«, schrie ich, hatte aber nicht die Hoffnung, dass er mich horte. Warum, zum Teufel, konnte ich die Stufe nicht finden? Ich wusste, dass die Treppe steil war, aber nicht so steil. Ich tastete mit meinem Fu? so tief es nur ging, aber ich fand keinen Halt.

In diesem Moment horte ich wieder das Schlurfen.

Es war jetzt wesentlich naher. Derart nah, dass ich instinktiv so weit zuruckwich, wie es mir moglich war, ohne das Gelander loslassen zu mussen.

»Danny«, sagte ich mit gedampfter Stimme. »Danny, hier ist Daddy.«

Schlurf.

Mein Herz schlug einen langen, langsamen Takt. Mein Mund war so trocken wie ein Schwamm. Zum ersten Mal seit den Tagen meiner Kindheit wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich glaube, es war das Gefuhl der volligen Hilflosigkeit, das mir mehr Angst machte als alles andere.

Schlurf.

Dann horte ich ein hohes kicherndes Gerausch, als wurde jemand in einer fremden Sprache sprechen, die er selbst nicht sehr gut beherrschte. Es war vollig unverstandlich. Es konnte ein Mensch gewesen sein, der Thai oder irgendetwas anderes sprach, aber ebenso gut das Quieken eines aufgeregten Tiers, das Blut gerochen hatte.

»Pssssssttt!«, erwiderte ich. Doch das Kichern horte nicht auf, sondern wurde eher noch schneller und aufgeregter. Ich hatte das unertragliche Gefuhl, jeden Augenblick sterben zu mussen.

DANNY. Hatte ich das laut gesagt? Ich wusste es nicht. DANNY, HIER IST DADDY.

Dann huschte etwas an mir vorbei, etwas, das sich abscheulich, kalt und borstig anfuhlte, so gro? wie ein zehnjahriges Kind, aber so schwer wie eines mit Ubergewicht. Es kratzte mich mit einer Kralle in den Arm. Ich schrie laut auf, strauchelte und verlor den Halt. Ich sturzte nach hinten, schlug mit der Schulter gegen eine Kiste und horte das Geschopf nur Zentimeter von mir entfernt mit einem triumphierenden Zischen vorbeischlurfen.

Hih-hih-hih-hih-hih!

Ich rollte mich zur Seite, stie? mit gro?er Wucht irgendwo in und fiel die Treppe hinunter. Es war, als wurde ich von einem drei?ig Meter hohen Gebaude in die Dunkelheit sturzen. Mit meinem Fu? hatte ich die Stufen nicht finden konnen, aber jetzt fand ich sie - auf schmerzhafte Weise. Bis zum Fu? der Treppe erwischte ich jede einzelne Stufe - mit Kopf, Schulter, Hufte, Ellbogen. Als ich unten ankam und mit dem Knie gegen die Tur stie?, die sich daraufhin offnete, fuhlte ich mich, als habe mich jemand mit einem Cricketschlager zusammengeschlagen.

Reflektiertes Sonnenlicht blendete mich.

Oh, Herr!«, rief ich aus.

Danny stand auf dem Treppenabsatz in seinem gestreiften Schlafanzug von Marks & Spencer und erwartete mich bereits.

Daddy!«, rief er aufgeregt. »Du bist gefallen!«

Ich lag rucklings auf dem Teppich, meine Fu?e befanden sich noch auf der Treppe.

»Alles in Ordnung«, beruhigte ich ihn, obwohl ich es eigentlich mehr sagte, um mich selbst zu beruhigen. »Das Licht funktioniert nicht, und ich bin gestolpert.«

Du hast geschrien«, beharrte Danny.

»Ja«, sagte ich und stand auf, um die Tur zum Dachboden zu schlie?en und zu verriegeln. War da ein Schlurfen zu horen, auch nur ein leichtes Kratzen?

Warum hast du gerufen?«

Ich sah ihn an, dann zuckte ich mit den Schultern. »Die Tur war zugefallen. Ich konnte nichts sehen.«

»Aber du hattest Angst.«

»Wer sagt, dass ich Angst hatte? Ich hatte keine Angst.«

Danny sah mich ernst an: »Du hattest Angst.«

Ich sah die Tur zum Dachboden langer an als notig.

»Nein«, sagte ich schlie?lich. »Es ist alles in Ordnung. Es war dunkel, weiter nichts. Ich konnte blo? nichts sehen.« 

2. Das Kapellenfenster

 Wir sa?en beim Fruhstuck in der altmodischen gro?en Kuche zusammen. Der Boden bestand aus paprikaroten unglasierten Fliesen, die lindgrunen Schranke waren von der Art, wie sie in den drei?iger Jahren hochmodern gewesen war. Das flache wei?e Spulbecken sah so aus, als habe man es fruher einmal fur Autopsien benutzt. Durch das Fenster konnte ich den Rest der Turmspitze erkennen, die zu der zerfallenen Kapelle gehorte.

Danny sa? am Tisch, vor sich eine Schale Weetabix. Er baumelte mit den Beinen, und die Sonnenstrahlen lie?en die Haare auf seinem Kopf wie eine strahlende Pusteblume wirken.

Er sah seiner Mutter so sehr ahnlich - gro?e, braune Augen, dunne Arme, dunne Beine. Er sprach auch wie seine Mutter, schlicht und praktisch. Ich hatte von Anfang an wissen sollen, dass ich niemals allzu lange Zeit mit einer schlichten und praktischen Frau zusammenleben konnte. Dafur war ich viel zu sehr Theoretiker - immer bereit, mich mehr auf meine Inspiration zu verlassen statt auf die Vernunft.

Janie und ich waren uns auf dem Brighton Art College begegnet; ich war im letzten, sie im ersten Jahr gewesen. Sie hatte viel gekichert und ihr Gesicht immer hinter ihren Haaren versteckt, aber sie war so atemberaubend schon, dass ich immer irgendeinen Grund fand, um mit ihr zu reden.

Drei Jahre spater begegneten wir uns an einem Sommerabend auf einer Party in Hastings wieder. An jenem Abend trug sie ein langes, lilawei?es Kleid aus feiner indischer Baumwolle und um ihren Kopf ein lila Tuch. Ich hatte mich augenblicklich und unwiderruflich in sie verliebt. Ich liebte sie noch immer, aber auf eine dumpfe, resignierte Art. Zahllose Wutausbruche und viele lautstarke Diskussionen hatten mir gezeigt, dass sie und ich einfach nicht zusammenbleiben konnten.

Ich betrieb in der North Street in Brighton ein Geschaft fur Inneneinrichtung. An einem nasskalten Februarmorgen kam sie zu mir in den Laden, um mir zu sagen, dass sie mich verlasst. Wenigstens besa? sie den Mut, es mir ins Gesicht zu sagen. Sie wollte mit jemandem namens Raymond nach Durham umziehen und dort fur den Stadtrat arbeiten. Ob ich ein paar Monate lang auf Danny aufpassen konne?

»Viel Gluck«, hatte ich gesagt. »Ich hoffe, du und Raymond werdet unglaublich glucklich miteinander.«

Die Turglocke hatte geklingelt, dann war sie fort. Drau?en hatte ein bartiger, fursorglich aussehender Mann in einem regennassen beigen Dufflecoat auf sie gewartet. Der verdammte Raymond.

Ich verlor in der Folge vollig das Interesse an der Inneneinrichtung. Stattdessen unternahm ich mit Danny ausgedehnte Spaziergange an der Kuste entlang und ignorierte das Telefon. Nach drei Monaten musste ich meine Tapeten und meine Musterbucher verkaufen und mich nach einer Arbeit umsehen -jedoch ohne gro?en Erfolg, wie sich herausstellen sollte.

Kurz nach Anfang des Sommers traf ich im King's Head in der Duke Street auf Chris Pert. Chris war einer

Вы читаете Die Opferung
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×