meiner alten Saufkumpane von der Kunsthochschule, bleiches Gesicht, etwas verschlossen und sonderbar, voll auf dem Zen-Trip und ein fanatischer Trager brauner Kordhosen. Wir spendierten uns abwechselnd einige Runden >Tetley's Bitter< und erzahlten uns gegenseitig unser Elend. Seine Mutter war gestorben, woran ich nicht viel andern konnte. Allerdings schlug ich ihm vor, Madame Tzigane auf dem Brighton Pier aufzusuchen, ihr ein paar Munzen in die Hand zu legen und sie zu fragen, ob er mit seiner Mutter auf der anderen Seite reden konne. Chris konnte mir dagegen sehr helfen. Er war der Stiefneffe von Mr. und Mrs. Bryan Tarrant, den Teppichfliesen-Millionaren und Eigentumern des Fortyfoot House auf der

Isle ol Wight. Chris erwahnte, dass die Tarrants ohne gro?en finanziellen Aufwand das Haus renovieren und reparieren und den Garten von Unkraut befreien lassen wollten, um es dann zu verkaufen. »Insgesamt aufpolieren« war die Formulierung, die er benutzte. Das horte sieh genau nach dem ruhigen, zuruckgezogenen Job an, den ich suchte. Ich konnte den ganzen Sommer mit Danny verbringen, ohne dabei denken zu mussen.

Gestern am spaten Nachmittag waren wir mit der Fahre von Portsmouth auf der Isle of Wight angekommen, dann bis zum sudlichsten Zipfel der Insel, nach Bonchurch, gefahren. Bonchurch war ein Kustendorfchen, das aus einem typisch britischen Kinderbuch hatte stammen konnen: ordentliche Cottages und schattige Wege, sauberlich gepflegte Garten.

Ich war nie zuvor auf der Isle of Wight gewesen. Wenn man nicht gerade seinen Kindern einen billigen Urlaub am Meer bieten wollte - oder wenn man nicht gerade ein Student der viktorianischen Geschichte war, der einen Blick auf Konigin Viktorias Haus in Osborne werfen wollte -, dann gab es keinen vernunftigen Grund, auf die Isle of Wight zu reisen. Es handelt sich um eine kleine Insel in der Form eines Diamanten, vor der Sudkuste Englands gelegen, mit der Autofahre nur zwanzig Minuten von Portsmouth entfernt. Knapp drei?ig Kilometer erstrecken sich zwischen der West-und der Ostkuste, vom nordlichsten bis zum sudlichsten Teil der Insel sind es gerade mal zwanzig Kilometer. Es ist ein verirrtes Fragment der Hampshire Downs, das von den Romern Vectis genannt worden war.

Die meisten Stadte und Dorfer sind Touristenfallen, mit Cottages und Puppenmuseen, mit Miniaturdampfloks und Flamingoparks. Doch in Richtung Westen gewinnt die Insel mit ihren von Mauern umgebenen Garten und ihren Zedern allmahlich an Hohe und geht in die Sandsteinklippen von Alum Bay und die kirchturmartigen Dachspitzen von Needles uber. Von diesen Klippen und damit weit weg von den Menschenmengen, konnte man die wahre Isle of Wight sehen. Eine idyllische Landschaft, die eine seltsame Aura der Zeitlosigkeit ausstrahlt, eine Aura, die heraufbeschwor, dass hier die Romer an Land gegangen waren, dass die Angelsachsen auf den breiten Hugeln Schafe gezuchtet hatten, dass Viktoria und Albert durch die gepflegten Garten spaziert waren, dass in den zwanziger Jahren Busse auf ihren Ballonreifen und mit ihren steil aufragenden Windschutzscheiben durch die von Hecken gesaumten Stra?en gefahren waren.

Darum gefiel es mir hier, und weil es gemutlich war. Danny gefiel es ebenfalls, und das war das Einzige, was zahlte. Vielleicht spurten wir beide, dass wir vor der Realitat flohen, die von bankrotten Geschaften und verlorenen Muttern gepragt war, um an einer endlosen goldenen Kuste Zuflucht zu suchen, die von Seesternen, Pfutzen im Sand und Schaufel und Eimer bestimmt wurde.

Kurz nach unserer Ankunft hatte ich Janie in Durham angerufen und ihr unsere Telefonnummer gegeben und ihr gesagt, dass Danny wohlauf war. »Du hetzt ihn doch nicht gegen mich auf, oder, David?«

»Warum sollte ich das? Er braucht eine Mutter, so wie jeder Junge.«

»Aber du wirst bei ihm nicht den Eindruck erwecken, ich hatte ihn sitzen lassen?«

»Warum sollte ich diesen Eindruck erwecken?Um Himmels willen, Janie, das Gefuhl hat er sowieso schon.«

Sie hatte schwer geseufzt: »Du hast versprochen, ihn nicht gegen mich aufzuhetzen.«

»Es geht ihm gut«, hatte ich ihr versichert. Ich wollte mich nicht schon wieder streiten, nicht am Telefon und nicht in diesem Moment. »Ich sehe schon zu, dass ich dich so oft erwahne, wie es angebracht ist.«

»Und wie oft ist das?«

»Janie, hor endlich auf, ja? Ich sage dauernd Dinge wie: >Ich frage mich, was Mom jetzt gerade macht.< Oder: >Ich mochte wetten, dass deine Mom dich gerne in dieser Hose sehen wurde.< Was soll ich noch tun?«

Langes Schweigen war die erste Reaktion, dann hatte Janie ernsthaft niedergeschlagen gesagt: »Er fehlt mir so sehr.«

Ich hatte das Gesicht verzogen, was sie naturlich nicht hatte sehen konnen. Keine sarkastische Grimasse, sondern eine von diesen Mienen, die man macht, wenn man sein Bestes gegeben hat und es immer noch nicht genug ist, wenn man den Rest seines Lebens mit den schmerzhaften Konsequenzen verbringen muss. »Ich wei?«, hatte ich gesagt. »Ich mache morgen Fotos, wenn wir am Strand sind. Ich schicke dir ein paar.«

Ohne ein weiteres Wort hatte Janie den Horer aufgelegt.

»Also, was sollen wir heute unternehmen?«, fragte ich Danny.

Er stand auf den moosuberzogenen Steinplatten der Veranda an der Ruckseite des Hauses, die Beine extrem weit gespreizt, die Hande in die Hufte gestemmt und die Unterlippe vorgeschoben. Diese Haltung nahm er ein, wenn er erwachsen aussehen wollte. Er trug ein rotgrun gestreiftes T-Shirt und eine rote Sporthose mit Gummizug.

»Erkundungsrundgang«, schlug er vor.

Ich sah mich um und hielt die Hand vor die Augen, um sie vor der Sonne zu schutzen. »Ich schatze, du hast Recht. Komm, lass uns einmal ums Haus gehen, damit wir wissen, was zu tun ist.«

»Du hast da einen blauen Fleck«, sagte er und zeigte auf meine linke Wange.

»Ich wei?. Ich bin die Treppe runtergefallen, ich bin mit blauen Flecken ubersat.«

»Wir brauchen eine Taschenlampe«, erklarte er.

»Auf jeden Fall. Lass uns die Gegend erkunden, und dann gehen wir los und kaufen die unglaublichste Taschenlampe, die je ein Mensch gesehen hat.«

Danny ging vor mir die Stufen hinunter. Zwischen jedem einzelnen Stein wucherte Gras, das Moos war an manchen Stellen sogar so dick, dass es wie ein tiefer gruner Teppich aussah. Ich erinnerte mich an einen Teppich, der fast genauso ausgesehen hatte. Den hatte man aus einem Haus in Brighton geschleppt, in dem zwei kleine Madchen bei einem Brand ums Leben gekommen waren.

Danny lief an der Mauer entlang, die die Veranda umgab, und sang >The Grand Old Duke of York<.

»Ich habe gestern mit Mom telefoniert, nachdem du ins Bett gegangen warst«, sagte ich.

Danny ruderte weiter mit den Armen und sang: »He had ten thousand men ...«

»Sie sagt, dass sie dich lieb hat. Und dass sie dich vermisst. Sie sagt, dass sie dich bald besuchen wird.«

»And he marched them down again.«

»Danny ...«

Er blieb am Ende der Mauer stehen. Uber seinem Kopf drehte sich eine Mowe im Wind und schrie wie ein Kleinkind. Es war bereits warm, und der blaue Himmel war mit kleinen Wolken ubersat, die wie Wattebausche aussahen.

»Sie hat gesagt, dass sie dich lieb hat und dich vermisst.«

Eine einzelne Trane lief uber seine Wange. Ich ging auf ihn zu, um ihn in die Arme zu nehmen, doch er wich einen Schritt zuruck. Er wollte nicht in die Arme genommen werden.

»Danny, ich wei?, dass das schwer fur dich ist.«

Ich horte mich an wie ein Figur in einer schlechten australischen Seifenoper. Woher sollte ich wissen, wie schwer es fur ihn war? Woher sollte ich wissen, was es fur einen Siebenjahrigen bedeutet, seine Mutter zu verlieren?

Ich wandte mich hilflos ab und sah hinuber zum Fortyfoot House - zu der Seite des Fortyfoot House, die zum Garten und zur See wies. Da der Garten so abrupt abfiel, wirkten die Mauern unnaturlich hoch. Sie waren mit Ziegelsteinen verkleidet, die so dunkelrot schimmerten, dass sie fast die Farbe von Kastanien hatten. Das riesige missgestaltete Dach war mit moosbewachsenen braunen Ziegeln bedeckt. Ursprunglich waren alle Fensterrahmen aus Eiche gewesen, jedenfalls hatte Mrs. Tarrant das gesagt. In den zwanziger Jahren hatte man sie durch glanzende Metallrahmen ersetzt, die dann schwarz gestrichen worden waren. Eine der ersten Entscheidungen, die ich fur das Fortyfoot House getroffen hatte, lautete, alle Metallrahmen wieder wei? zu streichen.

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