Die Schornsteine hatten alle noch ihre ursprungliche Hohe und waren so entworfen, dass sie Kohlenfeuer hei? und heftig brennen lie?en. Auch wenn jetzt fast subtropisches Klima herrschte, konnte ich mir vorstellen, dass die Winter in Bonchurch au?erst unangenehm werden konnten.

Irgendwann einmal musste die gesamte Ruckseite des Hauses mit Kletterpflanzen uberzogen gewesen sein, doch waren sie vor langer Zeit verkummert und abgefallen. Zuruckgeblieben waren nur ein paar trockene Ranken, die sich im Mauerwerk verfangen hatten.

Etwas an den Proportionen des Fortyfoot House irritierte mich. Aus irgendeinem Grund schienen die Winkel nicht zu passen. Das Dach wirkte viel zu gro?, und es sah so aus, als falle ein Ende viel zu steil ab. Ich ging ein paar Schritte zur Seite, und die Winkel veranderten sich, wollten aber noch immer nicht so richtig zusammenpassen. Fortyfoot House war eines der abnormsten Gebaude, denen ich jemals begegnet war. Ganz egal, aus welcher Richtung man es betrachtete, immer erschien es unangenehm, hasslich und unausgewogen.

Dieses Unangenehme war so allgegenwartig, dass sich mir fast der Verdacht aufdrangte, der Architekt habe es mit Absicht so entworfen. Von jeder Seite sah es so aus, als bestehe es nur aus einer Fassade, ohne jegliche Tiefe. Mich uberkam das Gefuhl, dass sich hinter den Wanden, die ich mit meinen eigenen Augen sehen konnte, nichts befand, abgesehen von einem vergessenen, leeren Garten. Es war, als existiere Fortyfoot House nicht wirklich.

Danny wollte nicht an meiner Hand gehen und sprang von der Mauer. Dann trottete er murrisch vor mir her, vorbei an den blutenlosen Rosenstrauchern, und ich folgte. Mir war so schlecht, als hatte ich einen Kater. Wie konnten Janie und ich ihm so ein Elend bereiten? Manchmal hatte ich das Gefuhl, es ware besser gewesen, ihn gar nicht erst zu zeugen. Es war so mies wie die Zucht von Jagdvogeln, nur um sie abzuschie?en.

»Ich glaube, auf dem Dachboden ist eine Ratte«, sagte ich zu ihm, wahrend wir auf dem Kiesweg am Strand weitergingen.

Er sagte nichts.

»Wenn wir die Taschenlampe haben, gehen wir nach oben und suchen nach ihr, ja?«

Er blieb stehen, drehte sich um und sah mich finster an. »Ratten konnen bei?en.«

»Ja, sicher. Aber wenn man eine dicke Hose und stabile Handschuhe tragt, kann nicht viel passieren. Au?erdem haben sie meistens mehr Angst vor uns als wir vor ihnen. Ich habe mal welche in der Kanalisation gesehen.«

»Ich konnte meine Wasserpistole mitnehmen«, schlug Danny vor.

Ich nahm seine Hand. »Ja, das ware nicht schlecht«, sagte ich. »Vielleicht kannst du sie mit roter Tinte fullen, so wie in den Comics. Das sieht dann wie Blut aus, wenn du sie triffst. Und wenn wir sie wieder sehen, wissen wir, mit welcher Ratte wir es zu tun haben.«

Danny gefiel diese Idee. Er begleitete mich bis zur Vorderseite des Hauses und begutachtete zusammen mit mir ernsthaft die Rhododendronbusche. Den Zustand des Dachs kommentierte er mit einigen fachmannischen Lauten. Ich liebte den Jungen.

Er begann, von der Schule zu erzahlen und von Button Moon im Fernsehen, und dass er beschlossen habe, bei den Comics auf Beano umzusteigen, weil der jetzt erwachsener war. Er fragte mich, ob es moglich sei, seinen Teddy so hoch zu werfen, dass der in eine Umlaufbahn um die Erde einschwenkte. Wenn er ihn so richtig schnell wirbeln und dann loslassen wurde? Er hatte Angst gehabt, es zu versuchen, weil es sein konnte, dass er seinen Teddy fur alle Zeit verlieren wurde. Seine Mom hatte ihm den Teddy geschenkt, und er ware am Boden zerstort gewesen, wenn er ihn verloren hatte.

Wir setzten uns auf die wei? lackierte gusseiserne Gartenbank, um uber die Garten in Richtung See zu blicken. Das Gras und das Unkraut waren kniehoch gewuchert. Der Wind wehte uns warm ins Gesicht und zerzauste unser Haar.

»Manchmal konnen Leute einfach nicht zusammenleben«, sagte ich ihm. »Sie lieben sich, aber sie konnen nicht zusammen sein.«

»Das ist blod«, sagte Danny.

»Ja«, stimmte ich ihm zu. »Das ist es.«

Danny sang leise und lie? die Beine baumeln, und ich blickte beilaufig und neugierig hinuber zum Fortyfoot House. Sogar von hier aus schienen die Winkel des Dachs ungewohnlich. Ich konnte das Dachfenster meines Zimmers sehen, das nach Suden hin lag, und die Ziegel zu beiden Seiten. Das Sonderbare daran war aber, dass die westliche Wand entgegen meinen Erwartungen vollig vertikal verlief, bis hinauf zur Dachkante, obwohl die Decke in meinem Zimmer auf dieser Seite auch abfiel.

Mit anderen Worten: Es gab einen abgeteilten Raum, der wie eine auf den Kopf gestellte Pyramide zwischen meiner geneigten Decke und der vertikalen Au?enwand des Hauses lag.

Was diesen Gedanken an einen abgeteilten Raum noch verwirrender machte, war die Tatsache, dass ich unter dem wei?en Verputz ganz schwach einen rechteckigen Umri? erkennen konnte, wenn ich meine Augen gegen die Sonne abschirmte. So als habe sich dort einmal ein Fenster befunden, das vor sehr langer Zeit zugemauert worden war. Irgendwann einmal musste mein Zimmer eine gerade Wand nach Westen hin gehabt haben - und ein Fenster, das den Ausblick auf die hohen Fichten ermoglicht hatte, die sich hinter den Erdbeerbeeten erhoben.

Ich konnte mir keinen vernunftigen Grund vorstellen, warum man dieses Fenster zugemauert und die Decke in meinem Zimmer so geneigt hatte, als wurde dort das Dach verlaufen. Vielleicht wegen Trockenfaule oder Feuchtigkeit oder wegen eines Baufehlers, der sich auf die Konstruktion auswirkte. Aber ein Fenster zuzumauern, das schien mir nicht der richtige Weg, um solche Probleme zu losen.

Ich sah das Dach so lange gedankenverloren an, bis Danny aufhorte zu singen und mich fragte: »Was ist los?«

»Nichts«, antwortete ich.

Er blickte ebenfalls hinauf zum Dach. »Da oben war mal ein Fenster«, erklarte er uberzeugt.

»Stimmt. Man hat es zugemauert.«

»Warum?«

»Das habe ich auch gerade uberlegt.«

»Vielleicht wollten sie nicht, dass jemand rauskommen konnte.«

»Vielleicht«, stimmte ich ihm zu, dann wunderte ich mich: »Wie kommst du auf >rauskommen<?«

»Na ja, das ist zu hoch. Reinkommen kann da keiner«, sagte Danny.

Ich nickte.

Es beeindruckte mich immer wieder aufs Neue, wie analytisch Kinder denken. Sie wischen all die Vorwande und Kompromisse beiseite, die Erwachsene bereitwillig akzeptieren, und sie sehen alles klar und unverfalscht, wie in einem Bilderbuch. Und sie besitzen noch etwas. Einen sechsten Sinn, eine Verbundenheit mit der Natur. Sie konnen zu den Baumen und Tieren und Froschen reden und bekommen manchmal sogar eine Antwort.

»Ich frage mich«, sagte Danny, »wer da in dem Zimmer gelebt hat.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, wen sie da nicht rauslassen wollten.«

»Ach so. Hmm, irgendjemanden.«

Wir gingen zuruck zur Veranda; jeder von uns hatte die Hande auf dem Rucken verschrankt, Vater und Sohn eintrachtig nebeneinander.

»Kommt Mom uns hier besuchen?«

»Ich wei? nicht. Wohl eher nicht. Jedenfalls nicht in nachster Zeit. Sie hat viel zu tun, oben in Durham, mit Raymond.«

»Du konntest wieder heiraten«, schlug Danny vor.

Ich sah zu ihm hinunter, lachelte und schuttelte dann den Kopf. »Daran habe ich nicht mal gedacht. Noch nicht.«

»Aber du wirst einsam sein.«

»Wie konnte ich einsam sein, ich habe doch dich.«

Danny griff nach meiner Hand.

»Wollen wir uns den Friedhof ansehen?«, fragte ich. Alles war mir lieber, als um Fortyfoot House herumzuspazieren, dieses Haus mit seinen beunruhigenden Winkeln und dem au?ergewohnlichen Eindruck, dass es sich nicht nur hier, sondern auch noch woanders befand. Es war wie bei einem Stock, den man ins Wasser

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