taucht und der dann geknickt zu sein scheint. Welcher Winkel ist der richtige? Welche Welt ist die richtige?

Wir durchquerten den Garten und naherten uns dem kleinen Bach, der unter den uberhangenden Farnen viel schneller floss als ich erwartet hatte. Au?erdem war er laut und sehr kalt. Danny und ich balancierten uber die Steine, die vom Wasser und Moos rutschig waren, dann kletterten wir den steilen Hugel hinauf, der zur Friedhofsmauer fuhrte. Der Wind trug den intensiven Geruch von wildem Thymian mit sich, der mich an irgendetwas erinnerte, was ich vor sehr langer Zeit einmal gekannt hatte. Ein sonderbares Gefuhl, kaum zu bestimmen. Und je mehr ich versuchte, mich zu erinnern, umso mehr entglitt mir das Gefuhl.

Danny stieg uber die eingesturzte Mauer, wahrend ich um sie herumging und das quietschende Eisentor offnete.

Auf dem Friedhof wehte der Wind nicht mehr und es war deutlich warmer. Seite an Seite gingen wir durch das hohe trockene Gras. Schmetterlinge tanzten um uns herum, und die riesige Zeder knarrte und stohnte monoton. Ich verspurte ein uberwaltigendes Gefuhl von Frieden und Zeitlosigkeit. Wir hatten hier an einem beliebigen Sommertag entlanggehen konnen - oder an allen Sommertagen gleichzeitig. Hier existierte kein Kalender, die Vergangenheit lag hier direkt neben der Zukunft.

Wir erreichten das ersten Grabmal, einen umgesturzten wei?en Stein mit einem blinden Engelsgesicht.

>Gerald Williams, im Alter von sieben Jahren von Gott zu sich berufen, 7. November 1886<.

Danny strich mit seinen Fingern uber die Buchstaben. »Er ist nicht sehr alt geworden, oder?«

»Nein, er war so alt wie du. Aber fruher sind Kinder an Krankheiten gestorben, die heute nicht mehr todlich sind. So wie Mumps oder Scharlach oder Keuchhusten. Die Leute hatten nicht die Medikamente, um sie zu heilen.«

»Armer Gerald Williams«, sagte Danny geruhrt.

Ich legte meinen Arm um seine Schulter, und gemeinsam gingen wir zum nachsten Grab. Der Stein war aus Marmor und hatte die Form einer aufgeschlagenen Bibel.

>Hier ruht in Frieden Susanna Gosling. Gestorben am 11. November 1886 im Alter von funf Jahren«.

»Noch ein Kind.«

»Vielleicht eine Epidemie«, uberlegte ich. »Wei?t du, wenn in einer ganzen Stadl oder einem Dorf jeder krank wird.«

Wir gingen weiter zu den nachsten Grabern. Ein Engel hielt einen Olivenzweig in der Hand. Ein gro?es keltisches Kreuz. Ein einfaches Rechteck. Wieder lagen dort Kinder begraben. Henry Pierce, zwolf Jahre. Jocasta Warren, sechs Jahre. George Herbert, neun Jahre.

Insgesamt fanden wir auf dem von Unkraut uberwucherten Friedhof siebenundsechzig Kindergraber. Keines der Kinder war junger als vier Jahre oder alter als dreizehn Jahre. Und sie alle waren im November 1886 in einem Zeitraum von zwei Wochen gestorben.

Ich stand neben der halb in sich zusammengefallenen Mauer der Kapelle unter dem leeren gotischen Fenster und sah mich um. »Hier muss irgendetwas wirklich Sonderbares

geschehen sein, dass diese Kinder alle fast zur gleichen Zeit gestorben sind.«

Danny nickte ernst. »Eine Epidemie, hast du doch gesagt.«

»Aber es gibt keine Erwachsenen, die in dieser Zeit gestorben sind. Nicht einen einzigen. Wenn alle diese Kinder an einer Krankheit gestorben waren, dann hatte es zumindest auch einen Erwachsenen treffen mussen.«

»Vielleicht ein Feuer«, sagte Danny. »Bei Lawrence hat es auf einer Geburtstagsparty auch mal gebrannt. Seine Mama hat den Kuchen reingebracht und dabei die Vorhange in Brand gesteckt. Das waren auch alles Kinder gewesen.«

»Das konnte sein. Aber wenn es wirklich ein Feuer oder irgendeine andere Katastrophe war, dann hatte es doch wenigstens auf einigen Grabsteinen stehen mussen.«

»Wenn ich vom Bus uberfahren werde, mochte ich aber nicht, dass das auf meinem Grabstein steht. >Hier liegt Danny, vom Bus platt gemacht<.«

»Das ist was anderes.«

»Ist es nicht.«

»Na gut, dann ist es nichts anderes. Komm, wir sehen uns mal die Kapelle von innen an.«

»Ich dachte, das ist eine Kirche.«

»Ist es auch. So eine Art jedenfalls. Eine Kapelle ist eine kleine Kirche.«

Die von Wind und Wetter ausgeblichenen Turen zur Kapelle waren aus ihren verrosteten Scharnieren gefallen und hatten sich verkantet. Ich druckte meine Schulter gegen den rechten Turflugel und konnte ihn mit etwas Muhe so weit bewegen, dass Danny und ich uns hindurchzwangen konnten.

»Pass auf, dass du nicht mit deinem T-Shirt an dem Nagel da hangen bleibst.«

Es gab kein Dach mehr, seine Uberreste lagen auf dem Boden verstreut, Hunderte von zerbrochenen Dachziegeln, die von Gras, Huflattich und Disteln uberwuchert wurden. Die Mauern waren noch immer gekalkt, wiesen aber schwarze Flecken auf, die von der Feuchtigkeit herruhrten.

Efeu hatte den gro?ten Teil der westlichen Mauer erobert. Wir gingen weiter, und die Dachziegel zerbrachen unter unseren Fu?en. Erst als wir den hohen Sandsteinaltar erreicht hatten, sahen wir uns in Ruhe um. Die Kapelle wirkte nicht mehr besonders heilig, nur verfallen. Vogel waren die einzige Kirchengemeinde, und das Stohnen der Zeder war der einzige Psalm, der zu horen war.

»Hier ist es unheimlich«, fand Danny.

»Das kommt dir nur so vor, weil alles verlassen ist.«

Wir bahnten uns unseren Weg zuruck zum Eingang, als Danny plotzlich sagte: »Sieh mal da. Fu?abdrucke.«

»Fu?abdrucke? Wovon redest du?«

»Sieh doch, hier.«

Er ging hinuber zur westlichen Mauer und zeigte auf den Boden, dicht unter dem uberhangenden Efeu. Tatsachlich war dort ein Paar nackter Fu?e aufgemalt worden.«

»Das ist ein Wandgemalde«, erklarte ich ihm. »Vermutlich eine Station auf dem Kreuzweg.«

»Was ist das?«

»Ich werd's dir zeigen.« Ich nahm den Efeu in beide Hande und schob ihn Stuck fur Stuck zur Seite. Er gab ein Gerausch wie zerrei?endes Leinen von sich und klammerte sich so hartnackig am Mauerwerk fest, als besa?e er Finger, mit denen er Halt fand. Schlie?lich legte ich aber das Wandgemalde schrittweise frei, zuerst ein paar in Wei? gekleidete Beine, dann eine Hand, eine Scharpe und noch eine Hand.

»Da«, sagte ich zu Danny. »Sieht aus wie Jesus.« Doch dann zog ich einen letzten Wust raschelnden Efeus zur Seite und legte das Bild einer Frau mit wallendem rotlichen Haar, einem roten Stirnband und einem au?ergewohnlichen, ergreifenden Gesichtsausdruck frei. Ein Gro?teil der Farbe war vom Wetter und dem austrocknenden Effekt des Efeus ausgeblichen, doch die Frau war noch immer beeindruckend, und das Gemalde war so lebensecht, dass ich fast das Gefuhl hatte, die Frau spreche zu uns.

Was mich storte, war nicht die realistische Darstellungsweise der Frau, sondern das, was um ihren Hals lag. Das Gemalde war so blass geworden, dass ich es zuerst fur eine dunkle Pelzstola hielt. Aber als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es sich um eine gro?e Ratte handelte - oder um etwas, das einer Ratte sehr ahnlich sah. Das Tier hatte ein wei?es langliches Gesicht und schrag stehende Augen, aber der Gesichtsausdruck wirkte eher wie der eines Menschen als der eines Tieres. Spottisch, berechnend und verschlagen.

»Das ist nicht Jesus«, sagte Danny nachdrucklich.

»Nein.«

»Und wer ist es dann?«

»Ich wei? nicht, ich habe keine Ahnung.«

»Was ist das da auf den Schultern? Dieses hassliche Ding?«

»Vermutlich eine Ratte.«

»Das ist hasslich.«

»Du hast Recht. Komm, wir verdecken es wieder.«

Ich versuchte, den Efeu wieder vor das Gemalde zu ziehen, aber nachdem ich ihn einmal von der Wand gezerrt hatte, weigerte er sich, wieder in seine alte Position zuruckzukehren. Schlie?lich musste ich die Wand freigelegt lassen. Damit blieb die Frau genauso fur jedermann sichtbar wie die verschlagen aussehende Ratte. Aus

Вы читаете Die Opferung
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×