empfand ich auch bei Charity. Ich konnte ihr nicht glauben, aber ich musste es einfach tun, weil sie real war.

Wahrend Charity mit mir gesprochen hatte, hatte Liz sich in dem Rauch bewegt, der sie umgab. Jetzt kam sie auf uns zu, beide Hande erhoben. Die Augen waren vollig rot, als seien die Pupillen mit Blut gefullt.

Charity drehte sich langsam und wurdevoll um, zog ein rosafarbenes Ganseblumchen aus ihrem Haar und hielt es ihr entgegen. »Du besitzt nicht genug Kraft, um mir etwas anzuhaben, Hexe. Weiche zuruck!«, sagte sie zu Liz. Diese zuckte vor Verargerung, aber es war nicht zu ubersehen, dass sie nicht naher kommen konnte. Sie fletschte ihre Zahne und wirbelte den Kopf umher, doch Charity blieb vollkommen gelassen und hielt ihr weiter die Blume entgegen.

»Jetzt wissen Sie, warum Kinder Ganseblumchen so mogen«, sagte sie. »Das vertreibt Hexen. Kinder sind den Naturgewalten viel naher als Erwachsene. Sie horen und verstehen Dinge.«

»Ich muss los und Danny holen. Er darf nicht verletzt werden; auch wenn ich spater in der Zeit zuruckreisen und es verhindern kann. Ich kann es trotzdem nicht zulassen. Selbst nicht dieses eine Mal.«

»Es ware besser, wenn ich hier bliebe«, sagte Charity duster, »und auf Liz aufpasse. Gegen das Hexen- Wesen, das die Alten zur Welt bringt ... gegen Vanessa Charles kann ich nichts unternehmen. Sie ist so machtig wie seinerzeit Kezia. Sie wird mich mit einem einzigen Blick toten.«

»Dann muss ich alleine gehen.«

Charity zog an meinem Armel. »Sie werden den Alten gegenubertreten, David. Die haben kein Gewissen, keine Bedenken. Sie haben den Verstand von Krokodilen.«

Ich wollte gerade wieder durch das Dachfenster klettern, da drehte ich mich noch einmal um und betrachtete Charity eindringlich. Ihr Gesicht erinnerte mich an jemanden. Sie musste meine Gedanken erraten haben, denn sie begann langsam zu lacheln, um dann mit einer sanften, viel alter klingenden Stimme zu sagen: »Wenn ich ein grelles Licht sahe, dann wurde ich an Ihrer Stelle um mein Leben rennen.«

Ich konnte es nicht fassen. »Doris Kemble«, flusterte ich. »Du bist Doris Kemble.«

»Ich werde eines Tages Doris Kemble sein.«

»Dann war Doris Kemble auch eine wei?e Hexe.«

Charity nickte. »Doris Kemble wird meine Enkelin sein. Sie wird nicht annahernd so viel Macht haben wie ich. Lind sie wird sich nicht an mich erinnern. Aber der junge Mr. Billings wird sie beobachten, wie sie mit Ihnen spricht, und er wird sie fur eine Bedrohung halten. Er wird Brown Jenkin schicken, damit er sich ihrer annimmt.«

»Also wurde sie von Brown Jenkin getotet?«

»Ja«, sagte Charity. »Und Harry Martin ebenfalls.«

Drau?en im Garten horte ich ein Kind schreien. »Ich muss los.«

»Ich wunsche Ihnen jeden Segen«, erwiderte sie und schwebte ein Stuck nach oben, um mich auf die Stirn zu kussen. Dann sank sie weder zu Boden. Ich war so perplex, dass ich fast verga?, durch das Dachfenster zu klettern.

Ich zog mich hoch und stieg durch das Fenster. Die Dachziegel waren mit einem grauen Schleim uberzogen, der aussah wie eine Mischung aus verschiedenen Schwermetallen und verfaulendem Moos. Ich spurte ein Prickeln auf meinem Gesicht und ein Stechen auf meinen Handrucken. Saurer Regen ... fast so intensiv wie Batteriesaure.

Ich balancierte auf der rostigen Dachrinne entlang, immer bemuht, nicht nach unten zu sehen auf die nasse, schmierige Veranda gut zwanzig Meter unter mir. Schlie?lich hatte ich die Feuerleiter erreicht und umschloss den verrosteten Handlauf. An einigen Stellen war sie vollig zerfressen, und im unteren Drittel fehlten sechs oder sieben Sprossen. Aber wenn Danny und Brown Jenkin den Weg nach unten geschafft hatten, dann wurde es auch mir gelingen.

In der Ruine, die einmal die Kapelle gewesen war, zuckten unirdische Lichter, und ich konnte den tiefen monotonen Gesang der Alten horen. Noch ein weiterer Gesang war zu vernehmen, der sich am anderen Ende des Klangspektrums bewegte: ein hoher, fast schon nicht mehr horbarer Ton.

Ich sah, wie Brown Jenkin Danny uber den Friedhof hinter sich herzog, auf dem das Unkraut abgestorben war, und dann zerrte er ihn durch die halb in sich zusammengefallenen Turflugel. Danny versuchte, sich loszurei?en.

»O Gott im Himmel, pass auf mich auf«, sagte ich, obwohl ich nicht sicher war, dass es 2049 noch einen Gott gab - wenn es ihn uberhaupt jemals gegeben hatte.

Vorsichtig wandte ich mich ab und begann, nach unten zu klettern. Ein oder zwei Mal sah ich hinunter, um festzustellen, ob die Sprossen mein Gewicht hielten. Jedes Mal war der Garten Schwindel erregend weit entfernt. Ich hatte fast die Halfte der Strecke zuruckgelegt, als ich jemanden meinen Namen rufen horte.

»David! David! Warten Sie auf mich!«

Ich sah nach oben und musste wegen des Regens blinzeln. Detective Sergeant Miller hatte sich uber die Brustung gebeugt und winkte mir zu; seine blonden Haare waren so nass, dass sie am Kopf klebten, seine Brillenglaser beschlagen, sein Gesicht noch rotlicher als ublich. Sein Gesicht war das einzig Lebendige in dieser gelblich grauen Landschaft.

»Sie haben Danny zur Kapelle gebracht«, rief ich ihm zu.

Er begann, mir nachzuklettern. »Ich habe den Garten nach ihm abgesucht«, keuchte er. »Naturlich haben wir nichts gefunden. In dem Moment wurde mir klar, was es mit

Fortyfoot House auf sich hat. Verschiedene Zeiten! Verschiedene Garten! Naturlich konnte ich den Holzkopfen nicht sagen, wohin ich gehen wollte. Sie hatten mir kein Wort geglaubt.«

»Machen Sie langsam«, rief ich. Er stieg mit solchem Eifer die Leiter hinunter, dass sie zu wackeln begann und einige Verankerungen in der Hauswand bedenklich knirschten. Wir wollten nicht nur sicher nach unten kommen, wir wollten auch wieder nach oben klettern konnen.

Schlie?lich hatte ich die unterste Sprosse erreicht und sprang das letzte Stuck auf die Veranda hinab. Miller folgte mir fast auf dem Fu?, musste aber die Hande zu Hilfe nehmen, um sich abzustutzen. Er wischte den grauen Schleim von seinen Fingern und schnupperte misstrauisch. »Was ist denn das?«, wunderte er sich. »Alles ist davon uberzogen, sieht aus wie eine Mischung aus Quallen und Leichen.«

»Wahrscheinlich ist es das auch«, erwiderte ich.

Wir eilten durch den Garten in Richtung Bach. Von der Sonnenuhr war nur noch ein Stumpf ubrig, der an einen verfaulten, zerfallenen Zahn erinnerte. Auf der rutschigen toten Vegetation glitten wir immer wieder aus, wahrend die schwefelhaltige Luft unsere Lungen so sehr reizte, dass wir fast unaufhorlich husten mussten.

Es floss noch immer ein Bach durch den Garten, aber es war eine dickliche braune Flussigkeit, die nach Abwasser stank. Wir versuchten, den Bach mit einem Sprung zu uberwinden, doch Miller rutschte am gegenuberliegenden Ufer aus und trat mit einem Fu? bis zur Oberkante seiner Socke in die Flussigkeit.

»Oh Schei?e«, fluchte er, wahrend er den Fu? schuttelte.

»Damit konnten Sie Recht haben«, bemerkte ich.

Wir erklommen den Hugel, der zur Friedhofsmauer fuhrte. Die Erde unter unseren Fu?en zitterte, als fahre eine unendlich lange U-Bahn unter uns hindurch. Hinter der Kapellenwand zuckten grelle Lichtblitze auf. Ich horte panische Schreie und ein schreckliches Stohnen ... und noch etwas anderes: Die unverkennbare Stimme des jungen Mr. Billings, der in einer Sprache eine haarstraubende Beschworung rezitierte, von der ich nicht einmal hoffte, sie aussprechen zu konnen. Davon, sie zu verstehen, vollig abgesehen. Es klang nach keiner menschlichen Sprache, die ich jemals gehort hatte. Es war mehr wie das Zwitschern riesiger Insekten, vermischt mit den Unterwasserlauten von Delphinen. Tekeli-li! Tekeli-li!

Miller und ich eilten gebuckt zwischen dem Unkraut des Friedhofs hindurch, dessen Grabsteine inzwischen fast alle umgesturzt, zerbrochen und zerfressen waren, nachdem sie jahrelang in saurem Regen gestanden hatten. Ein aus Stein gehauener Engel wies statt prachtvoller Flugel nur noch missgestaltete Stumpfe auf, und sein Gesicht hatte sich so weit aufgelost, dass es eher einem Affen mit flacher Stirn glich.

Wir erreichten die Tur der Kapelle. Diesmal wurde es viel einfacher als noch 1992 sein, in das zerfallene Gebaude zu gelangen, da ein Gro?teil der Holzbohlen langst verrottet war.

»Wie sieht Ihr Plan aus?«, fragte Miller.

»Was?«

»Ich meine, was wollen Sie machen, wenn Sie hineingegangen sind?«

»Wie soll ich das wissen? Ich werde mir Danny schnappen und loslaufen. Was soll ich sonst machen?«

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