versuchte, dabei so wenig Gerausche wie moglich zu machen. Ich gab der Tur einen Sto? und lie? sie auffliegen, bis sie gegen die Wand schlug, erzitterte und dann in ihrer Position verharrte. »Wer ist da?«, rief ich. »Ich warne Sie, das ist Privatbesitz!«

Keine Antwort. Ich hielt inne und lauschte, dann rief ich: »Ich wei?, dass Sie da sind! Ich will, dass Sie rauskommen!«

Du willst, dass er rauskommt ? Dieser finster dreinblickende Mann mit seinem hohen Hut ?

Wieder folgte lange Zeit Stille, dann horte ich plotzlich ein rasches schlurfendes Gerausch aus dem Flur, schlie?lich offnete jemand die Vordertur. Ich musste in dem Moment verruckt gewesen sein, denn ich rannte ohne zu zogern durch die Kuche und riss die Tur zum Flur auf, um gerade noch zu sehen, wie eine dunkle Silhouette durch die Vordertur des Hauses verschwand und die steile Einfahrt hinaufeilte.

Ich rannte hinterher, wusste aber, dass ich nicht den Mann mit dem Backenbart und dem gro?en Zylinder verfolgte. Als ich die Stra?e erreicht hatte, die hinauf nach Bonchurch fuhrte, sah ich, dass ich einer zierlichen jungen Frau folgte -mit strahnig blondem Haar, einem schwarzen Sweatshirt und Baumwollshorts, mit einem randvollen Turnbeutel uber der Schulter.

Liz, dachte ich. Dies ist der Augenblick, die Gelegenheit. Jetzt kann ich sie vor Fortyfoot House bewahren und vor dem entsetzlichen Schicksal, das hier auf sie wartet. Jetzt kann ich sie vor mir retten.

Es konnte andere Folgen haben, die genauso schlimm sein mochten, aber wenigstens war Liz in Sicherheit.

Ich blieb stehen, wahrend sie weiterlief. Ich horte, wie ihre Sandalen uber den hei?en Teer schlappten. Dann war sie hinter den Lorbeeren verschwunden. Sie war fort. Ich stand noch eine Zeit lang auf der Stra?e und sah zu der Stelle, an der ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Mit einem Mal wurde mir klar, dass es mir das Herz brach.

Danny kam zu mir und fragte: »Wer war das?«

Ich schuttelte den Kopf. »Ich wei? nicht, irgendeine Frau. Sie hat mir nicht gesagt, was sie wollte.« Wir gingen zuruck zum Haus.

»Wie war's mit etwas zu trinken?«, fragte ich Danny. »Unten am Strand gibt es ein Cafe.«

»Gin Tonic«, sagte er ernst.

Der Morgen war warm und friedlich, und wahrend wir Hand in Hand uber den Rasen in Richtung Strand gingen, sah ich hinuber zur Kapelle. Etwas war anders, aber zuerst konnte ich nicht sagen, was mich irritierte. Dann erst bemerkte ich, dass die Grabsteine fehlten und dass der Friedhof nichts weiter war als ein verwilderter Garten.

Dadurch, dass ich Liz hatte gehen lassen, hatte ich zugleich das Schicksal der Waisen im Fortyfoot House geandert. Sie waren inzwischen zwar auch langst tot, aber niemand hatte sie von hier weggeholt.

»Wo ist...«, begann Danny und sah sich um.

»Wo ist wer?«

»Ich wei? nicht«, sagte er erstaunt. »Ich nahm an, es sei noch jemand da.«

Wir erreichten das Strandcafe und setzten uns drau?en an die Mauer, sodass Danny einen Fischer beobachten konnte, der seine Netze auslegte. Eine altliche Frau, die aussah wie Oma Walton, kam zu uns heruber und wischte sich die Hande an ihrer Schurze ab.

»Was soll's denn sein?«, fragte sie.

Danny starrte sie an, dann flusterte er: »Coca-Cola.«

»Kein Gin Tonic?«, fragte ich amusiert.

Er schuttelte den Kopf und konnte seinen Blick nicht von Doris Kemble abwenden. Es war, als habe er einen Geist gesehen.

»Am Strand sind viele Taschenkrebse«, sagte sie. »Du kannst ein Rennen mit ihnen veranstalten.«

Spater, als Danny zum Strand gegangen war, um nach Taschenkrebsen Ausschau zu halten, setzte sich Doris Kemble zu mir. »Er wird sich an nichts erinnern«, sagte sie nach einer Weile. »Sie schon, aber es war auch Ihre Entscheidung, die Dinge zu andern. Darum tragen Sie auch die Verantwortung fur alles, was kommen wird.«

»Sie leben noch«, sagte ich. »Aber was ist mit den Pickerings, mit Detective Sergeant Miller und mit Harry Martin?«

»Sie leben alle noch, und keiner von ihnen kennt Sie.«

»Ist das alles uberhaupt geschehen?«, fragte ich sie.

Sie nickte. »Ja, es ist alles geschehen. Es geschieht noch immer, irgendwo in der Zeit.«

»Und die Alten?«

»Sie hatten ihnen jede Chance auf eine Ruckkehr nehmen konnen, aber dazu haben Sie sich nicht entschieden. Jetzt konnen Sie nur beten und alles tun, um den Tag hinauszuzogern, an dem die Erde so verschmutzt ist, dass sie auferstehen konnen.«

»Und der junge Mr. Billings? Und Mazurewicz?«

»Sie sind aus dem Hier und Jetzt verschwunden, aber irgendwo sind sie bestimmt immer noch.«

»Und Brown Jenkin?«

Doris Kemble legte ihre Hand auf meine. »Ich rate Ihnen eines, David. Lauschen Sie immer auf Brown Jenkin.«

Wir verlie?en Fortyfoot House am nachsten Tag. Ich sagte den Maklern, dass ich eine Nachricht von meinem Arzt in Brighton erhalten habe, er habe ein potenziell gefahrliches Herzgerausch bei mir festgestellt und musse mir alle anstrengenden Arbeiten untersagen. Ich versprach ihnen, den Vorschuss zuruckzuzahlen, was ich noch immer mit monatlich funf Pfund mache.

Danny und ich fuhren zuruck nach Brighton, wo wir zur Zeil im Hinterzimmer in der Wohnung meines alten Freundes John Smart in Clifton Terrace wohnen. Mir gefallt es hier, es ist sonnig und windig, und der Weg runter zur Kuste ist angenehm. Nur der Ruckweg ist verdammt anstrengend.

Ich habe nur ein Andenken aus Fortyfoot House mitgenommen, das Schwarzwei?foto des jungen Mr. Billings auf dem Rasen vor dem Haus. »Fortyfoot House, 1888<. Nicht etwa, weil es mir gefallen hatte. Sondern weil Kezia Mason es verhext hatte, damit es sich bewegte. Es ist wie ein Barometer, wie eine Wetterfahne. Wenn der junge Mr. Billings jemals wieder nach Brown Jenkin auf die Suche geht, werde ich es sehen, bevor es geschieht.

Jeden Morgen studiere ich das Foto, wahrend ich meinen Kaffee koche. Ks hangt gleich neben meinem Greenpeace-Poster.

Heute Morgen, am 15. Oktober, glaubte ich, hinter der Krummung des Rasens einen kleinen dunklen dreieckigen Fleck sehen zu konnen. Ich hielt das Foto ins Licht und betrachtete es genauer. Unten im Garten spielte Danny mit seinen Dinky-Lastwagen, wahrend die Sonne seine Haare leuchten lie?. Vielleicht war der Fleck schon immer dort gewesen, vielleicht hatte ich ihn bislang nur nicht bemerkt. Es konnte irgendetwas sein. Aber es konnte auch ein Hut sein. Oder die Spitze eines Ohrs oder eine erhobene Klaue.

Es konnte die Kreatur sein, die mich noch immer in meinen Albtraumen verfolgt, Nacht fur Nacht, mit seinen langen Klauen, seinen gelben Augen und den verfarbten Zahnen, eine Kreatur, die hinter der Fassade meiner geistigen Gesundheit kratzt und kichert.

Es konnte etwas Gebeugtes und unendlich Boses sein, das durch das Labyrinth der Zeit unablassig auf uns zulief

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