wäre humaner… Warum sollte ich den Menschen unnötig quälen?

Zeit zum Nachdenken blieb mir jedoch nicht. Das Auto raste auf den Platz vor dem Flughafengebäude zu und hielt mit quietschenden Bremsen vorm Eingang an. Niemand achtete besonders auf uns: Jemand, der zu spät zu seinem Flug kam, nichts Außergewöhnliches. Ich holte Arinas Brief heraus. Sah auf den»Kompass«.

Die Nadel bewegte sich leicht hin und her, gab aber noch keine Richtung an.

Ob Kostja meine Ankunft spürte? Zumindest Geser war überzeugt davon. Was würde nun auf mich zukommen?

Seltsamerweise empfand ich bis jetzt keine Angst. Innerlich war ich nicht bereit, Kostja als Feind zu sehen - noch dazu als einen Feind, der fähig ist zu morden. Ich bin ein Magier zweiten Grades, das ist nicht schlecht. Hinter mir stand die gesamte Kraft der Nachtwache und nun auch - was noch nie da gewesen war - die der Tagwache. Was sollte mir ein einziger Vampir da schon anhaben? Selbst wenn er ein Hoher war.

Doch dann fiel mir das verzerrte Gesicht Viteszlavs wieder ein. Kostja hatte ihn ermordet. Ihn überwältigt.

»Lass«, sagte ich. »Ich hätte eine kleine Bitte… Komm hinter mir her. In gewissem Abstand. Wenn was passiert… Wenn du etwas bemerkst, sagst du es mir.«

Lass nahm den letzten Schluck Whisky und warf die leere Flasche auf die Rückbank. »Warum sollte ich nicht mitkommen?«, sagte er vernünftig. »Vorwärts, bleichgesichtiger Blade.«

Ihm war jetzt anscheinend alles schnuppe. Er hatte sich einen angetrunken - was auch eine gute Methode ist, um sich gegen einen Vampir zu schützen. Das Blut eines angetrunkenen Menschen bekommt ihm nicht, das eines stark betrunkenen kann ihn sogar umbringen. Ob sich Vampire deswegen immer lieber in Europa rumgetrieben haben als in Russland?

Aber ein Vampir ist keinesfalls gezwungen, das Blut eines getöteten Menschen zu trinken. Futter ist Futter, und Dienst ist Dienst. »Komm mir nicht zu nah«, wiederholte ich. »Halte Abstand!«

»Passen Sie auf sich auf, Chef!«, bat Roman. »Viel Erfolg. Sie sind unsere Hoffnung!«

Ich sah ihn an und erinnerte mich an die Abschiedsworte Sebulons. Wie ähnlich wir uns doch sind.

Wie ähnlich wir uns doch alle sind. Menschen und Andere, Dunkle und Lichte.

»Leise, geduldig, ohne Aggression«, sagte ich vor mich her, während ich die vor dem Eingang zum Flughafengebäude rauchenden Männer anstarrte. Überwiegend intelligente Menschen mit Krawatte. Eine Putzfrau in einer orangefarbenen Jacke, die eine Prima qualmte, sah neben ihnen völlig wild aus. »Leise und friedlich…«

Ich steuerte auf das Gebäude zu. Die Raucher wichen mir aus, denn in mir steckte jetzt zu viel Kraft, sogar normale Menschen konnte das spüren.

Und sobald sie es spürten, brachten sie sich klugerweise in Sicherheit.

Als ich hineinging, sah ich mich um. Lass kam mit einem gutmütigen Lächeln hinter mir hergetrottet. Wo bist du, Kostja?

Wo bist du, Hoher Vampir, der nie einen Menschen um der Kraft willen umgebracht hat?

Wo bist du, der du davon träumst, wie in einem billigen Hollywoodstreifen der Herrscher über die Welt zu werden?

Dort, wo auch der kleine Vampir ist, der versucht hat, sein Schicksal zu überlisten… Ich werde dich töten.

Nicht»Ich muss töten«, nicht»Ich kann töten«, nicht»Ich will töten«. Genug mit den Präzisierungen. Ich habe das»Müssen«, habe Rotz und Tränen hinter mir, die intellektuelle Selbstzerfleischung und Selbstrechtfertigung. Ich habe das»Können«, habe die Komplexe und Qualen eines Magiers dritten Grades hinter mir, die Anspannung eines Anderen, der seine Grenze erreicht hatte. Ich habe das»Wollen«, habe die Emotionen und Leidenschaften hinter mir, den Zorn und das Mitleid. Jetzt tu ich nur, was getan werden muss.

Falsche Ideale und Pseudoziele, fiebrige Losungen und doppeldeutige Postulate interessierten mich nicht mehr. Ich glaube nicht mehr an das Licht und nicht mehr an das Dunkel. Das Licht, das ist nur ein Photonenstrom. Das Dunkel nichts weiter als die Abwesenheit von Licht. Die Menschen sind unsere kleinen Brüder. Die Anderen sind das Salz der Erde. Wo bist du, Kostja Sauschkin?

Wo auch immer du hingerannt bist - zu den alten Artefakten des Ostens, zu einer milliardenstarken Armee aus chinesischen Magiern - ich werde deinen Sieg nicht zulassen. Wo bist du?

In der Mitte der Halle - der nicht allzu großen Halle eines Provinzflughafens - blieb ich stehen. Ich hatte den Eindruck, ihn zu spüren…

Ein verschwitzter Mann mit einem Koffer stolperte in mich hinein, entschuldigte sich und ging weiter. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf seine Aura: ein nicht initiierter Anderer, ein Lichter, der Angst vorm Fliegen hatte, der aber gerade glücklich gelandet war und sich entspannte. Ein zufriedener Mann - der eben deshalb auffiel. Im Moment interessierte mich das nicht. Kostja?

Ich drehte mich um, als habe jemand meinen Namen gerufen. Ich starrte auf das Schild»Personaleingang«und auf das Codeschloss.

Im Lärm des Flughafens erhob sich eine für niemandem hörbare Melodie. Offenbar rief er mich.

Die Knöpfe des Codeschlosses leuchteten gehorsam auf, als ich meine Hand danach ausstreckte. Vier, drei, zwei, eins. Ein wirklich schlauer Code…

Ich öffnete die Tür, sah mich um und nickte Lass zu, um die Tür dann vorsichtig, damit sie nicht wieder ins Schloss fiel, anzulehnen.

Leere, in einem trostlosen Grün gestrichene Gänge. Durch die ich jetzt ging.

Die Melodie schwoll an, schlingerte durch die Luft, schwang sich empor und sank wieder. Wie eine versponnene Melodie auf einer klassischen Gitarre. Dazu die zarten Klänge einer Geige.

Das ist er also, der richtige Ruf eines Vampirs, der Ruf, der dir gilt.

»Ich komme ja schon«, murmelte ich, während ich auf eine weitere Tür mit Codeschloss zusteuerte. Hinter mir ging eine Tür: Lass folgte mir.

Ein neues Schloss, ein neuer Code. Sechs, drei, acht, eins. Ich öffnete die Tür - und fand mich auf dem Rollfeld wieder.

Langsam kroch ein dickbäuchiger Airbus über den Beton. Weiter hinten heulten die Turbinen einer Tupolew, die auf die Startbahn zusteuerte.

Fünf Meter vor der Tür stand Kostja. In der Hand hielt er einen kleinen, piekfeinen Aktenkoffer aus Hardplastik. Mir war klar, dass er das Fuaran enthielt. Kostjas Hemd war eingerissen als ob es ihm zwischendurch zu klein gewesen sei.

Offenbar war er aus dem Zug gesprungen und hatte mit der Transformation begonnen, bevor er sich vollständig ausgezogen hatte.

»Hallo«, sagte Kostja.

Die Musik verstummte, riss mitten im Ton ab.

»Hallo«, erwiderte ich. »Du bist schnell hergeflogen.«

»Geflogen?«Kostja schüttelte den Kopf. »Nein… eine Fledermaus schafft diese Strecke kaum. »

»Und in was hast du dich dann verwandelt? In einen Wolf?«

Kostjas Antwort setzte der absurden Profanität unseres Gesprächs die Krone auf: »In einen Hasen. Eine großen grauen Hasen. Sprung für Sprung…«

Ich konnte nicht an mich halten - und kicherte los, als ich mir den gigantischen Hasen vorstellte, der durch Gärten rannte, mit riesigen Sprüngen über Bäche und Zäune setzte. »Stimmt…«Kostja breitete die Arme aus. »Es war wirklich komisch. Ist mit dir alles in Ordnung? Habe ich dich nicht… zu sehr…? Sind die Zähne in Ordung?«

Ich versuchte, so breit wie möglich zu lächeln.

»Entschuldige.«Kostja wirkte ehrlich bedrückt. »Das lag daran, dass alles so überraschend kam. Wie bist du dahinter gekommen, dass ich das Buch habe? Der Cocktail? »

»Ja. Für den Zauber ist das Blut von zwölf Menschen nötig.«

»Woher weißt du das?«, fragte Kostja gedankenversunken. »Euch ist doch gar nicht bekannt, was im

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