Fuaran steht… Na ja, egal. Ich möchte mit dir reden, Anton.«

»Ich mit dir auch«, sagte ich. »Gib auf. Noch kannst du dein Leben retten.«

»Ich lebe seit langem nicht mehr.«Kostja lächelte. »Hast du das etwa vergessen? »

»Du weißt, was ich meine.«

»Lüg mich nicht an, Anton. Du glaubst ja selbst nicht, was du da sagst. Ich habe vier Inquisitoren ermordet!«

»Drei«, korrigierte ich ihn. »Viteszlav und zwei im Zug. Der dritte hat überlebt.«

»Ein gewaltiger Unterschied.«Kostja runzelte die Stirn. »Schon einen würden sie mir niemals verzeihen.«

»Das ist ein besonderer Fall«, entgegnete ich. »Ich sage es ganz offen, die Großen haben es mit der Angst bekommen. Sie könnten dich umbringen, doch der Preis für ihren Sieg wäre sehr hoch. Die Großen würden sich auf Verhandlungen einlassen.«Kostja schwieg und sah mich unverwandt an.

»Wenn du das Fuaran zurückgibst, wenn du dich freiwillig ergibst, krümmen sie dir kein Haar«, fuhr ich fort. »Du bist doch ein gesetzestreuer Vampir. Das liegt alles an dem Buch, du hast im Affekt gehandelt…«

Kostja schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht. Edgar hat die Worte Viteszlavs nicht für voll genommen. Aber ich habe sie geglaubt. Ich bin umgekehrt und zur Hütte zurückgeflogen. Viteszlav hat nicht mit einer Falle gerechnet… Er hat mir das Buch gezeigt und alles erklärt. Als ich das von dem Blut von zwölf Menschen gehört habe… da war mir klar, dass das meine Chance ist. Er hat noch nicht einmal Einwände gegen das Experiment erhoben. Vermutlich wollte er so schnell wie möglich herauskriegen, ob es sich wirklich um das echte Buch handelt. Erst in dem Moment hat er begriffen, dass ich stärker geworden bin… und dann hat er seine Kräfte angespannt. Aber es war bereits zu spät.«

»Wozu?«, fragte ich. »Das ist doch Wahnsinn, Kostja! Wozu brauchst du die Weltherrschaft?«

Kostja zog die Brauen hoch. Eine Zeit lang sah er mich an - dann lachte er los. »Wovon redest du, Anton? Was für eine Herrschaft? Du hast ja rein gar nichts verstanden!«

»Ich verstehe sehr wohl«, sagte ich trotzig. »Du fliehst nach China, oder? Bringst eine Milliarde Magier unter deine Macht?«

»Idioten«, sagte Kostja leise. »Ihr seid alle Idioten. Ihr könnt immer nur an eins denken… Macht und Kraft… Ich brauche diese Macht nicht! Ich bin ein Vampir! Verstehst du? Ich bin ein Ausgestoßener! Mieser als jeder sonstige Andere! Ich will nicht der stärkste Ausgestoßene werden! Ich will ganz normal werden! Ich will so sein wie alle!«

»Aber mit dem Fuaran kannst du einen Anderen nicht in einen Menschen umwandeln…«, murmelte ich.

Kostja kicherte. »Ach!«Er schüttelte den Kopf. »Schalt mal dein Hirn ein, Anton! Die haben dich mit Kraft aufgetankt und losgeschickt, um mich umzubringen, das weiß ich. Aber denk vorher wenigstens nach, Anton! Mach dir klar, was ich will!«

Hinter mir quietschte die Tür. Lass kam herein. Verwirrt sah er mich an, dann schielte er zu Kostja hinüber. Kostja schüttelte den Kopf.

»Ich störe wohl?«, sagte Lass, nachdem er die Situation abgeschätzt hatte. »Tut mir leid, ich bin schon wieder weg… «

»Stopp«, meinte Kostja sachlich. »Du kommst gerade recht.«

Lass erstarrte. Ich hatte in Kostjas Stimme keinen Befehl herausgehört, aber da war wohl doch einer gewesen.

»Ein kleines Experiment zur Veranschaulichung«, sagte Kostja. »Schau dir an, wie es gemacht wird…«

Heftig schüttelte er seinen Aktenkoffer, worauf die Schlösser gehorsam aufsprangen, der Koffer sich öffnete und aus ihm ein schweres, solides Buch herausflog. Das Fuaran.

Der Einband war in der Tat aus Leder, aus grau-gelbem Leder. Kupferne Dreiecke schützten die Ecken. Außerdem gab es noch eine sinnreiche Schließe, die verhinderte, dass das Buch sich öffnete.

Kostja fing das Buch mit einer Hand und schlug es mit so erstaunlicher Leichtigkeit auf, als hantiere er nicht mit einem mehrere Kilogramm schweren Folianten, sondern blättere eine Zeitung durch. Er ließ den Aktenkoffer fallen, der auf den Beton krachte.

»Hier steht größtenteils Gewäsch drin«, amüsierte sich Kostja. »Eine Chronik missglückter Experimente. Die Anleitung kommt am Ende… Es ist ganz einfach.«

Mit der freien Hand holte Kostja aus der Gesäßtasche seiner Jeans die kleine Metallflasche. Schraubte den Verschluss ab und gab einen Tropfen direkt auf die aufgeschlagene Seite. Worauf wartete ich noch? Was hatte er vor?

Alles in mir schrie: Greif ihn an! Schlag mit voller Kraft zu, solange er abgelenkt ist! Doch ich wartete, von dem Anblick wie gebannt.

Der Blutstropfen verschwand von der Seite. Schmolz dahin, gab braunen Rauch ab. Und das Buch… das Buch fing an zu singen. Es stieß einen Laut aus, der einem kehligen Gesang ähnelte, an eine menschliche Stimme erinnerte. Es lag nichts Artikuliertes darin.

»Beim Dunkel und beim Licht…«, sagte Kostja, während er auf die aufgeschlagenen Seiten blickte. Er sah etwas, das mir verborgen blieb. »Om… Mrigankandata gauri… Auchitya dhvani… Nach meinem Willen… Mokscha gauri…«

Die Stimme des Buches - und ich hegte nicht den geringsten Zweifel, dass hier das Buch sprach - schwoll an. Erstickte Kostjas Stimme, erstickte die Worte des Zauberspruchs, sowohl die russischen als auch jener alten Sprache, in der das Fuaran abgefasst worden war.

Kostja hob die Stimme, als versuche er das Buch zu überschreien.

Ich verstand nur das letzte Wort, wieder ein Om. Der Gesang riss mit einem scharfen, dissonanten Ton ab. Hinter mir fluchte Lass. »Was war das denn?«, fragte er.

»Ein Meer«, amüsierte sich Kostja. Er bückte sich, hob den Aktenkoffer auf und legte sowohl das Buch als auch die Flasche hinein. »Ein ganzes Meer neuer Möglichkeiten.«

Ich drehte mich um - obwohl ich bereits wusste, was ich sehen würde. Kniff die Augen zusammen und fing mit den Pupillen den Schatten meiner Wimpern auf. Ich betrachtete Lass durchs Zwielicht.

Die Aura eines nicht initiierten Anderen war absolut klar zu erkennen. Herzlich willkommen in unserem Freundeskreis…

»So funktioniert es bei Menschen«, sagte Kostja. Auf seiner Stirn standen jetzt zwar Schweißtropfen, dennoch wirkte er rundum zufrieden. »Genau so. »

»Was hast du jetzt vor?«, fragte ich.

»Ich möchte ein Anderer unter Anderen sein«, sagte Kostja. »Ich möchte, dass das alles aufhört… Lichte und Dunkle, Menschen und Andere, Magier und Vampire. Alle sollen zu Anderen werden, begreifst du das? Alle Menschen auf der Welt.«

Ich lachte. »Kostja… du brauchst zwei oder drei Minuten pro Mensch. Wie steht's mit deinen Kenntnissen in Arithmetik?«

»Hier hätten auch zweihundert Menschen stehen können«, erklärte Kostja. »Dann wären sie jetzt alle Andere geworden. Hier hätten zweitausend Menschen stehen können. Der Zauber wirkt auf alle, die sich in meinem Blickfeld befinden. »

»Trotzdem…«

»In anderthalb Stunden startet vom Kosmodrom Baikonur die nächste Rakete zur Internationalen Raumstation«, sagte Kostja. »Ich glaube, der deutsche Weltraumtourist wird mir seinen Platz überlassen müssen.«Einen Moment lang schwieg ich und wog seine Worte ab.

»Ich werde ganz ruhig am Fenster sitzen und auf die Erde glotzen«, verkündete Kostja. »Wie es sich für einen Weltraumtouristen gehört. Ich werde auf die Erde schauen, etwas Blut aus der Flasche auf den Seiten verschmieren und den Zauberspruch flüstern. Und weit unter mir werden die Menschen zu

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