Anderen. Alle Menschen, verstehst du? Vom Säugling in der Wiege bis zum Greis im Rollstuhl.«

Jetzt wirkte er fast wie ein Lebender. Durch und durch. In seinen Augen loderte etwas, das nicht der Vampirkraft entsprang, sondern normalem menschlichen Eifer.

»Anton, du hast doch selbst auch schon davon geträumt, oder? Dass es keine Menschen mehr gibt! Dass alle gleich sind!«

»Ich habe davon geträumt, dass alle zu Anderen werden«, sagte ich. »Aber nicht davon, dass es keine Menschen mehr gibt.«

Kostja verzog das Gesicht. »Hör doch auf! Das sind Wortklaubereien… Wir haben die Chance, die Welt zum Guten zu verändern, Anton. Fuaran konnte das nicht, denn zu ihrer Zeit gab es noch keine Raumschiffe. Geser und Sebulon können das nicht, denn sie haben das Buch nicht. Aber wir, wir können es! Ich will keine Macht, versteh mich doch! Ich will Gleichheit! Freiheit!«

»Glück für alle, und umsonst?«, fragte ich. »Und dass niemand gekränkt fortgeht?«Er verstand mich nicht.

»Ja, Glück für alle! Die Erde den Anderen! Und keine Kränkungen! Ich will, dass du mit mir kommst, Anton. Dass du dich auf meine Seite stellst.«

»Das ist eine vorzügliche Idee«, rief ich und sah ihm in die Augen. »Kostja, du bist einfach fabelhaft!«

Lügen konnte ich noch nie. Und einen Vampir zu täuschen, das ist fast unmöglich. Aber offenbar wollte Kostja unbedingt hören, dass ich ihm zustimmte. Er lächelte. Entspannte sich.

In dem Moment hob ich die Hand und schlug mit der»grauen Andacht«zu.

Das hatte nichts mehr mit dem Schlag zu tun, den ich ihm im Zug versetzt hatte. Die Kraft brodelte in mir, strömte aus meinen Fingerspitzen heraus! Ohne Ende! Wer kann schon wissen, dass er eine Leitung ist, solange kein Strom fließt?

Der Zauber ließ sich sogar in der Menschenwelt erkennen. Schlingernde graue Fäden schossen aus meinen Händen, spannen Kostja ein, zogen sich um ihn zusammen, schnappten ihn sich, bildeten einen zuckenden grauen Kokon um ihn. Im Zwielicht geschah etwas Unvorstellbares: Ein tosender grauer Schneesturm brandete durch die Welt, im Vergleich zu dem der normale graue Nebel direkt farbenfroh wirkte. Jedem normalen, registrierten Vampir in einem Radius von mehreren Kilometern, so schoss es mir durch den Kopf, dürfte es jetzt auch nicht gerade prächtig gehen. Einzelne abprallende Zauberfragmente würden ihn wegfegen und dematerialisieren…

Kostja fiel auf ein Knie. Er hielt sich, versuchte zu entkommen, aber die»graue Andacht«saugte die Kraft schneller aus ihm heraus, als er dem Zauber entgehen konnte. »Mein lieber Schieber!«, rief Lass begeistert hinter mir. Nie zuvor war so viel Kraft durch mich hindurchgeströmt.

Mit der Welt um mich herum geschah etwas Seltsames. Das Flugzeug auf der Startbahn verlor seine Farbe, verwandelte sich in einen grauen steinernen Klotz. Der Himmel bleichte aus, wurde fahl und hing jetzt tief. Die Ohren schienen mit Watte zugestopft. Anscheinend drängte das Zwielicht in unsere Welt…

Aber ich konnte nicht aufhören. Ich spürte: Sollte ich auch nur eine Sekunde erlahmen, würde Kostja sich losreißen, würde zum Gegenschlag ausholen. Und dann so zuschlagen, dass mir Hören und Sehen verging… Dann würde ich und nicht Kostja da auf dem Asphalt liegen, zu Brei zerquetscht…

Er hob den Kopf. Sah mich an. Nicht böse, sondern eher verletzt und ungläubig. Ganz langsam breitete er die Arme aus… Sollte er tatsächlich noch Kraftreserven haben?

Um Kostja herum zeichnete sich ein hellblaues, durchscheinendes Prisma in der Luft ab. Es zerschnitt die grauen Fäden des Zaubers, kreiste und schrumpfte zu einem Punkt zusammen. Dann verschwand es. Zusammen mit dem Vampir. Kostja war durch ein Portal geflohen.

Nach wie vor brandete die Kraft in mir. Die Kraft von Tausenden von Anderen, die Geser und Sebulon mir zugeleitet hatten, eine überbordende, unkontrollierte Kraft, die nach Anwendung verlangte. Menschenkraft, die durch dritte Hand zu mir gelangt war… Es reichte…

Ich führte meine Hände zusammen und ballte die grauen Fäden zu einem festen Knäuel. Es reichte…

Der Feind stand nicht mehr vor mir. Es reichte…

Ein Duell der Magier - das bedeutet zu fechten, nicht mit einem Knüppel zuzuhauen. Es reichte. Kostja hatte sich als der Raffiniertere erwiesen.

Ein leichtes Zittern schüttelte mich, trotzdem hörte ich auf. Der Himmel gewann seine Farbe zurück, auf der Startbahn raste das Flugzeug los. Kostja war weg. Geflohen?

Nein, er war einfach weg. Noch nie hatte ich von Vampiren gehört, die imstande sind, ein direktes Portal zu öffnen. Und die Großen hatten offenbar ebenfalls nicht erwartet, dass Kostja uns mit einer solchen Finte täuschen würde.

Als er zum Flughafen gekommen war, hatte er damit gerechnet, dass alle nur an Flugzeuge und Hubschrauber denken würden. Sich entspannen würden, denn ihnen blieb noch genug Zeit, sie konnten den Vampir ja in der Luft abfangen, Jagdflugzeuge losschicken, sie konnten Raketen abfeuern…

Kostja hatte sich jedoch von Anfang an auf einen Sprung in ein direktes Portal vorbereitet. Anderthalb Stunden vor dem Start der Rakete… Niemals hätte er es geschafft, mit einem Flugzeug pünktlich in Baikonur einzutreffen! Außerdem flog da sowieso keins hin, schließlich gab es in dem Gebiet - wozu auch immer es jetzt erklärt sein mochte - noch eine Luftabwehr. Und nur deshalb hatte er den Sprung selbst unter dem Druck der»grauen Andacht«geschafft: Der Zauber für das Portal war bereits gewirkt, bereits»aufgehangen«- genau wie die Kampfzauber bei uns Fahndern.

Also hatte er doch nicht geglaubt, dass ich zu ihm überlaufen würde. Oder zumindest ernsthafte Zweifel daran gehabt. Trotzdem war es für ihn wichtig - sehr wichtig -, mich zu besiegen. Und zwar nicht durch reine Kraft. Was bedeutet schon Kraft, wenn er nun ein Hoher und ich immer noch ein Magier zweiten Grades war, selbst wenn man noch so viel geliehene Kraft in mich gepumpt hatte. Nein, der reinste, der überzeugendste Sieg ist der, wenn der Gegner deine Wahrheit anerkennt. Sich kampflos ergibt. Sich unter deine Fahne stellt.

Letzten Endes bin ich doch ein Dummkopf. Ich hatte ihn für einen Freund oder einen Feind gehalten. Doch er war keins von beiden. Er gedachte lediglich seine Wahrheit zu beweisen. Und wie es der Zufall so wollte, sollte ich als Mittel der Beweisführung dienen. Schon kein Freund mehr, aber noch kein Feind. Sondern nur der Träger einer alternativen Wahrheit. »Hat er sich mit Teleportation davongemacht?«, fragte Lass.

»Was?«Ich drehte mich um und sah ihn an. »Nun… etwas in der Art. Er hat ein Portal geöffnet und ist verschwunden. Wie bist du dahintergekommen?«

»In einem Computerspiel habe ich mal etwas gesehen, das kam dem hier ziemlich nahe…«, sagte Lass leicht zweifelnd. Um dann verärgert zu präzisieren: »Sehr nahe!«

»Diese Spiele werden nicht nur von Menschen gemacht…«, erklärte ich. »Ja, er ist verschwunden. Nach Baikonur. Er möchte einen Weltraumtouristen ersetzen…»

»Das habe ich gehört«, sagte Lass. »So ein Idiot. »

»Ist dir klar, warum er ein Idiot ist?«, fragte ich.

Lass schnaubte. »Wenn alle Menschen Magier werden… Heute pöbelt man dich in der Straßenbahn an, und morgen verbrennt man dich auf der Stelle zu Asche. Heute zerkratzt man einem unangenehmen Nachbarn die Tür mit einem Nagel oder denunziert dich beim Finanzamt, morgen wirkt man irgendein Unheil oder saugt ihm das Blut aus. Ein Affe auf einem Motorrad ist nur im Zirkus amüsant, nicht im Straßenverkehr… Und schon gar nicht, wenn der Affe eine Maschinenpistole in der Hand hat.«

»Glaubst du, dass die Mehrheit aus Affen besteht?«, wollte ich wissen.

»Wir alle sind Affen.«

»Dein Weg führt in die Wache«, murmelte ich. »Wart mal gerade… ich muss mir Rat holen.«

»Was für eine Wache?«, fragte Lass misstrauisch. »Vielen Dank auch! Glücklicherweise bin ich nämlich kein Magier!«

Ich schloss die Augen und lauschte. Stille.

»Geser!«

Stille.

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