Sutherland nahm das Kommando auf Zypern an, doch sein Herz war voller Furcht. Er fragte sich, ob Tevor- Browne wu?te, da? er Halbjude war. Der Entschlu?, den er damals beim Tod seiner Mutter gefa?t hatte, dieser schreckliche Entschlu?, der schon so lange zurucklag — jetzt kam er uber ihn und rachte sich.

Er erinnerte sich, da? er damals in der Bibel Trost gesucht und auch gefunden hatte. Das war in den inhaltslosen Jahren mit Neddie gewesen, nach dem schmerzlichen Verlust des eurasischen Madchens, der Frau, die er geliebt hatte, und alles zusammen hatte ihn immer starker danach verlangen lassen, inneren Frieden zu finden. Wie wunderbar war das fur ihn als Soldaten, von den gro?en kriegerischen Taten eines Josua, Gideon oder Joab zu lesen. Und diese wunderbaren Frauen — Ruth und Esther und Sara — und — und Deborah. Deborah, die Jeanne d'Arc der Juden, Befreierin ihres Volkes. Er wu?te noch genau, wie es ihn kalt uberlaufen hatte, als er die Worte las: Wach auf, Deborah, wach auf, wach auf!

Deborah — so hie? seine Mutter.

Deborah Davis war eine schone und ungewohnliche Frau gewesen. Kein Wunder, da? sich Harold Sutherland heftig in sie verliebt hatte.

Die Familie sah gro?mutig daruber hinweg, als Harold es durchsetzte, da? Der Widerspenstigen Zahmung funfzehnmal uber die Bretter ging, damit er die schone Schauspielerin Deborah Davis darin bewundern konnte, und die Familie lachelte auch nachsichtig, als er sein Konto uberzog, um sie mit Blumen und Geschenken zu uberhaufen. Sie hielten es fur eine jungenhafte Laune und meinten, er wurde sie schon vergessen.

Er verga? sie nicht, und die Familie horte auf, tolerant zu sein. Deborah Davis erhielt eine strenge Aufforderung, in Sutherland-Heights zu erscheinen, doch sie kam nicht. Daraufhin begab sich Harolds Vater, Sir Edgar, nach London, um sich diese erstaunliche junge Dame einmal naher anzusehen, die sich weigerte, nach Sutherland-Heights zu kommen. Deborah war ebenso geistreich wie schon, und Sir Edgar war von ihr hingerissen.

Er machte kein Hehl aus seiner Meinung, da? sein Sohn ein unverschamtes Gluck gehabt hatte. Schlie?lich war bekannt, da? die Sutherlands schon immer eine Neigung fur Schauspielerinnen gehabt hatten, und einige dieser Damen waren die gesellschaftlichen Prunkstucke in der langen Familiengeschichte der Sutherlands geworden.

Da war naturlich der eine etwas heikle Punkt, da? Deborah Davis Judin war, doch dieses Problem erledigte sich dadurch, da? sie sich bereit erklarte, zur anglikanischen Kirche uberzutreten.

Harold und Deborah hatten drei Kinder. Mary, die einzige Tochter, und Adam, der schwermutig und nicht ganz zurechnungsfahig war. Und Bruce, der Alteste und Deborahs Liebling. Er liebte seine Mutter abgottisch. Doch bei aller zartlicher Nahe sprach sie nie uber ihre Kindheit oder von ihren Eltern. Er wu?te nur, da? sie sehr arm gewesen und von zu Hause weggelaufen war, um zur Buhne zu gehen.

Die Jahre vergingen. Bruce wurde Offizier und heiratete Neddie Ashton. Albert und Martha wurden geboren. Harold Sutherland starb, und Deborah wurde alt und alter.

Bruce erinnerte sich noch sehr genau an den Tag, an dem es geschah. Er war mit Neddie und den Kindern nach Sutherland-Heights gekommen, um langere Zeit dort zu bleiben. Wenn Bruce nach Haus kam, fand er seine Mutter entweder drau?en bei den Rosen oder im Wintergarten, oder irgendwo im Haus, wo sie ihren Verpflichtungen nachging, heiter, lachelnd und glucklich. Doch als er an diesem Tag vorgefahren war, hatte sie weder dagestanden, um ihn zu begru?en, noch war sie sonst irgendwo zu finden gewesen. Schlie?lich hatte er sie in ihrem Salon entdeckt, wo sie im Dunkeln sa?. Das war seiner Mutter so unahnlich, da? er erschrak. Sie sa? unbeweglich wie eine Statue und schien ihre Umgebung vergessen zu haben.

Bruce ku?te sie sanft auf die Wange und kniete sich neben sie. »Fuhlst du dich nicht wohl, Mutter?«

Sie wandte langsam den Kopf und flusterte: »Heute ist Jom-Kippur, der Versohnungstag.«

Bruce erschrak zutiefst.

Er sprach mit Neddie und seiner Schwester Mary daruber. Sie wurden sich daruber klar, da? ihre Mutter seit Vaters Tod zuviel allein gewesen war. Au?erdem war Sutherland-Heights viel zu gro? fur sie. Sie sollte sich eine Wohnung in London nehmen, um Mary naher zu sein. Und au?erdem wurde Deborah alt. Es fiel ihnen schwer, sich das klarzumachen, da ihnen die Mutter noch immer genauso schon erschien wie damals, als sie Kinder gewesen waren. Dann gingen Bruce und Neddie in den Nahen Osten. Mary schrieb gluckliche Briefe, wie gut es ihrer Mutter gehe, und Deborahs Briefe berichteten von ihrem Gluck, in London und in der Nahe von Marys Familie zu sein.

Doch als Bruce nach England zuruckkam, sah die Sache ganz anders aus. Mary war vollig au?er sich. Die Mutter war jetzt siebzig Jahre alt und wurde immer wunderlicher. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern, was gestern gewesen war, dagegen au?erte sie ungereimtes Zeug uber Ereignisse, die funfzig Jahre zurucklagen. Dabei bekam es Mary mit der Angst zu tun, weil Deborah ihren Kindern gegenuber nie von ihrer Vergangenheit gesprochen hatte. Was Mary aber am meisten beunruhigte, war, da? ihre Mutter haufig verschwunden war, ohne da? jemand wu?te, wohin. Mary war sehr froh, da? Bruce wieder da war. Er war der Alteste, Mutters Liebling, und er war so zuverlassig. Bruce ging seiner Mutter eines Tages nach, als sie einen ihrer geheimnisvollen Spaziergange machte. Ihr Ziel war eine Synagoge in Whitechapel.

Er uberlegte alles sorgfaltig und beschlo?, seine Entdeckung fur sich zu behalten. Sie war eine alte Frau; er hielt es nicht fur richtig, sie an Dinge zu erinnern, die sich vor mehr als funfzig Jahren ereignet hatten. Es schien ihm das Beste, stillschweigend daruber hinwegzugehen.

Im Alter von funfundsiebzig Jahren lag Deborah Sutherland im Sterben. Bruce kam gerade noch rechtzeitig nach England zuruck. Die alte Frau lachelte, als sie ihren Sohn an ihrem Bett sitzen sah. »Du bist jetzt Oberstleutnant — gut siehst du aus. Hore, Bruce — ich habe nicht mehr sehr viele Stunden zu leben —.«

»Still, Mutter! Du wirst sehr bald wieder gesund und auf sein.« »Nein, mein Sohn, ich mu? dir etwas sagen. Ich wunschte mir so, deinen Vater zu heiraten. Ich wollte so gern — so sehr gern die Herrin von Sutherland-Heights werden. Bruce, ich habe etwas Entsetzliches getan. Ich habe die Meinen verleugnet. Ich verleugnete sie im Leben. Jetzt mochte ich mit ihnen zusammen sein. Versprich mir, da? ich dort begraben werde, wo meine Eltern liegen —.«

»Ich verspreche es dir, Mutter.«

»Mein Vater — dein Gro?vater, du hast ihn nie gekannt. Als ich — als ich klein war, nahm er mich oft auf den Scho? und sagte zu mir — wach auf, Deborah, wach auf, wach auf —.«

Das waren ihre letzten Worte.

Bruce Sutherland sa? lange am Bett seiner toten Mutter, betaubt vor Schmerz. Doch allmahlich begann die Betaubung von ihm zu weichen, und er spurte einen brennenden Zweifel, der sich nicht unterdrucken lie?. War er wirklich gebunden an ein Versprechen, das er einer Sterbenden gegeben hatte? Das er ihr hatte geben mussen? Wurde er, wenn er es nicht erfullte, gegen den Ehrenkodex versto?en, nach dem er stets gelebt hatte? War es nicht wirklich so, da? Deborah Sutherlands Geist im Lauf der vergangenen Jahre Stuck fur Stuck von ihr gegangen war? Sie war im Leben nie Judin gewesen, warum sollte sie im Tode eine sein. Deborah war eine Sutherland gewesen und sonst nichts.

Was wurde es fur einen entsetzlichen Skandal geben, wenn er gezwungen sein sollte, sie auf einem verfallenden judischen Friedhof in einem Londoner Armenviertel begraben zu lassen. Mutter war tot. Die Lebenden — Neddie, Albert und Martha, die Familie seiner Schwester Mary und sein Bruder Adam — wurden dadurch zutiefst verletzt werden. Das Recht der Lebenden ging vor.

Als er seine Mutter zum Abschied ku?te und ihr Zimmer verlie?, hatte er seinen Entschlu? gefa?t.

Deborah wurde in Sutherland-Heights in der Familiengruft beigesetzt.

Die Sirenen! Die Sirenen der Wagenkolonne mit den judischen Fluchtlingen! Ihr Geheul wurde lauter und lauter, bis es ihm in den Ohren drohnte. Bergen-Belsen — Marina — Neddie — Menschen, auf Lastwagen zusammengepfercht — die Lager von Caraolos — uberfullte Baracken — Tote — ich verspreche es dir, Mutter — ich verspreche es dir —.

Ein Donnerschlag lie? das Haus bis in seine Grundfesten erzittern, Sturm erhob sich auf dem Meer, hohe Wogen brachen sich donnernd am Strand, kamen hoher und hoher, fast bis an das Haus heran. Sutherland schleuderte die Bettdecke fort und taumelte wie betrunken durch den Raum. Erstarrt blieb er am Fenster stehen, es blitzte und donnerte! Hoher und hoher stieg das tobende Meer!

»O Gott — Gott — Gott —!«

»Brigadier! Brigadier Sutherland. Wachen Sie auf, Sir! Wachen Sie auf!«

Der griechische Boy stand bei ihm und ruttelte ihn heftig.

Sutherland offnete die Augen und blickte wild um sich. Er war schwei?gebadet, und sein Herz schlug hammernd. Er schnappte nach Luft. Der Boy brachte ihm rasch einen Brandy.

Sutherland sah hinaus auf das Meer. Die Nacht war still, das Wasser lag spiegelglatt und spulte sanft gegen

Вы читаете Exodus
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×