Eine leichte Bewegung ging durch die lauschende Gruppe, aber niemand blickte auf, niemand wagte es, den Nachbarn anzusehen.

»Ich kann Ihnen versichern, dass sich keiner unter Ihnen als eine andere Person ausgibt«, fuhr Poirot fort. »Es besteht kein Zweifel, dass Miss Chadwick, die seit Bestehen der Schule hier tatig ist, niemand anderes ist als Miss Chadwick. Miss Johnson ist Miss Johnson, Miss Rich ist Miss Rich. Dasselbe gilt fur Miss Shapland, Miss Rowan und Miss Blake. Adam Goodman, der hier im Garten arbeitet, tut dies nicht unter seinem richtigen Namen, aber wir wissen genau, wer er ist. Wir haben also nicht nach einer Person zu suchen, die sich hinter einer falschen Identitat verbirgt, sondern schlicht und einfach nach einem Morder.«

In dem Raum herrschte jetzt eine bedrohliche Stille.

Poirot fuhr fort: »Wir sind vor allem an einer Person interessiert, die vor drei Monaten in Ramat war. Nur ihr war es moglich zu wissen, was der Griff des Tennisschlagers enthielt. Jemand muss Bob Rawlinson an Ort und Stelle beobachtet haben… Wer von Ihnen ist vor drei Monaten in Ramat gewesen? Miss Chadwick, Miss Johnson, Miss Rowan und Miss Blake waren hier.«

Er hob die Hand und zeigte mit dem Finger auf Miss Rich.

»Miss Rich dagegen war wahrend des letzten Schulhalbjahrs nicht hier, nicht wahr?«

»Ich? Nein. Ich war krank«, erklarte Eileen Rich hastig.

»Das haben wir erst zufallig vor ein paar Tagen erfahren«, erwiderte Poirot. »Beim Verhor hatten Sie nur ausgesagt, dass Sie seit anderthalb Jahren in Meadowbank seien, ohne Ihre vorubergehende Abwesenheit zu erwahnen. Es ist durchaus moglich, dass Sie in Ramat gewesen sind, und ich glaube sogar, Sie waren dort. Seien Sie vorsichtig, Miss Rich, denn wir brauchen nur Ihren Pass zu uberprufen.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann blickte Eileen Rich auf.

»Ja, ich war in Ramat«, erwiderte sie ruhig. »Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?«

»Warum waren Sie dort, Miss Rich?«

»Weil ich krank war und weil man mir geraten hatte, einen Auslandsurlaub zu nehmen, den Miss Bulstrode mir gewahrte.«

»Das stimmt«, sagte Miss Bulstrode. »Miss Rich schickte mir ein Attest ihres Arztes, der eine langere Erholung verordnet hatte.«

»Und so fuhren Sie nach Ramat?«, fragte Poirot.

»Ja«, erwiderte Eileen Rich mit zitternder Stimme. »Es gab billige Ferienreisen fur Lehrerinnen, und ich brauchte Ruhe und Sonne. Und so verbrachte ich zwei Monate in Ramat… Warum auch nicht?«

»Sie haben niemals erwahnt, dass Sie zurzeit der Revolution in Ramat waren.«

»Warum sollte ich? Was hat das mit Meadowbank zu tun? Ich habe niemanden ermordet… ich bin keine Morderin!«

»Man hat Sie wiedererkannt«, sagte Poirot. »Die kleine Jennifer war ihrer Sache allerdings nicht ganz sicher, denn die Person, der Sie so ahnlich sehen, war dick, nicht mager… Was haben Sie dazu zu sagen, Miss Rich?« Poirot fixierte sie. Sie warf trotzig den Kopf zuruck, aber sie hielt seinem Blick stand.

»Ich wei?, worauf Sie hinauswollen«, rief sie erregt. »Sie wollen behaupten, dass diese Morde nicht von einem Spitzel oder von einem Geheimagenten verubt worden sind, sondern von jemandem, der zufallig mit angesehen hat, dass die Juwelen in einem Tennisschlager versteckt wurden. Jemand, der begriff, dass Jennifer auf dem Weg nach Meadowbank war, jemand, der ihr folgte, um sich die Juwelen anzueignen. Aber das ist nicht wahr! Ich schwore Ihnen – es ist nicht wahr!«

»Doch. Ich glaube, dass es so gewesen ist«, erwiderte Poirot. »Jemand hat zufallig mit angesehen, wie die Edelsteine versteckt wurden, und war von diesem Augenblick an fest entschlossen, sie sich selbst zu verschaffen.«

»Es ist nicht wahr! Ich habe nichts gesehen…«

Poirot warf Kelsey einen Blick zu.

Kelsey nickte, ging zur Tur, offnete sie, und… Mrs Upjohn betrat das Zimmer.

»Wie geht es Ihnen, Miss Bulstrode?«, fragte Mrs Upjohn ziemlich verlegen. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich so unordentlich aussehe, aber ich komme geradewegs aus Ankara…«

»Das macht nichts«, sagte Poirot. »Wir wollten Sie etwas fragen.«

»Es handelt sich um den Tag, an dem Sie Ihre Tochter nach Meadowbank brachten, Mrs Upjohn«, sagte Kelsey. »Sie waren in Miss Bulstrodes Wohnzimmer und sahen zum Fenster hinaus – zu dem Fenster, von dem aus man die Einfahrt uberblicken kann –, und Sie stie?en einen Laut des Erstaunens aus, als hatten Sie plotzlich jemanden erkannt. Stimmt das?«

»Am Tag des Schuljahrbeginns? In Miss Bulstrodes Wohnzimmer?« Mrs Upjohn blickte den Kommissar erstaunt an. »O ja, jetzt fallt es mir ein, ich sah damals ein bekanntes Gesicht…«

»Warum waren Sie daruber so erstaunt?«

»Weil… weil ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.«

»Seit Ende des Krieges, nicht wahr? Seit Sie den Geheimdienst verlassen hatten?«

»Ja, und obwohl sie viel alter aussah, habe ich sie sofort erkannt. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, was sie hier zu suchen hatte.«

»Ich mochte Sie bitten, sich in diesem Zimmer umzusehen und mir zu sagen, ob diese Person anwesend ist, Mrs Upjohn.«

»Naturlich ist sie hier«, erwiderte Mrs Upjohn. »Ich sah sie, als ich hereinkam. Dort sitzt sie.«

Sie streckte ihren Zeigefinger aus. Kommissar Kelsey und Adam handelten schnell – aber nicht schnell genug. Ann Shapland war aufgesprungen. Sie hielt einen kleinen, gefahrlich aussehenden Revolver in der Hand, der auf Mrs Upjohn gerichtet war. Miss Bulstrode erfasste die Situation sofort, aber Miss Chadwick kam ihr zuvor. Mit zwei schnellen Schritten drangte sie sich zwischen Ann Shapland, Mrs Upjohn und Miss Bulstrode.

»Nein, das durfen Sie nicht!«, schrie Chaddy und warf sich in dem Augenblick schutzend auf Miss Bulstrode, als der Schuss krachte.

Miss Chadwick schwankte, bevor sie zu Boden sank. Miss Johnson lief zu ihr hinuber. Adam und Kelsey hielten Ann Shapland fest, die sich wie eine Wildkatze zu wehren versuchte. Es gelang ihnen mit vereinten Kraften, ihr die Waffe zu entwinden.

»Schon damals hatte sie den Ruf einer Killerin«, sagte Mrs Upjohn atemlos. »Sie war eine der gefahrlichsten Spioninnen. Ihr Deckname war Angelica.«

»Gemeine Lugnerin!«, kreischte Ann Shapland.

»Sie lugt nicht. Sie sind eine gefahrliche Person«, sagte Hercule Poirot. »Sie haben von jeher ein gefahrliches Leben gefuhrt. Bis heute ist es Ihnen allerdings gegluckt, Ihre Identitat zu verbergen. Alle Stellungen, die Sie innehatten, waren einwandfrei, und Sie haben Ihre Arbeit zur Zufriedenheit Ihrer Vorgesetzten ausgefuhrt. Aber Sie haben alle diese Stellungen nur angenommen, um sich Informationen zu verschaffen. Sie waren bei einer Olgesellschaft beschaftigt, bei einem Archaologen, der in einem bestimmten Teil der Welt zu tun hatte, und bei einer Schauspielerin, deren Freund ein wichtiger Politiker war. Seit Ihrem siebzehnten Lebensjahr sind Sie Geheimagentin gewesen, und zwar haben Sie fur die verschiedensten Leute gearbeitet. Sie haben Ihre Dienste denen zur Verfugung gestellt, die am meisten zahlen konnten. Sie haben die Mehrzahl der Auftrage unter Ihrem richtigen Namen angenommen und durchgefuhrt; in einigen besonderen Fallen mussten Sie sich in eine andere Person verwandeln. In solchen Zeiten behaupteten Sie, nachhause zu Ihrer kranken Mutter zu mussen. Ich habe den starken Verdacht, dass die alte, verwirrte Dame, die ich neulich in dem Dorfchen besuchte, wo sie mit einer Krankenschwester lebt, nicht Ihre Mutter ist, Miss Shapland. Sie haben sie lediglich als einen Vorwand benutzt, wenn es Ihnen in den Kram passte. Wahrend der drei Monate, die Sie angeblich mit Ihrer Mutter verbrachten, waren Sie in Ramat, aber nicht als Miss Shapland, sondern als Angelica de Toredo, eine spanische Tanzerin, die in einem Kabarett auftrat. Sie wohnten im selben Hotel wie Mrs Sutcliffe, und zwar im Nebenzimmer. Durch Zufall konnten Sie mit ansehen, wie Bob Rawlinson die Juwelen in den Griff des Tennisschlagers tat. Da an jenem Tag alle Englander aus Ramat evakuiert wurden, konnten Sie den Tennisschlager nicht mehr an sich bringen, aber Sie hatten die Adresse auf den Kofferschildern gelesen… Es fiel Ihnen nicht schwer, hier den Posten einer Sekretarin zu erhalten. Ich habe herausgefunden, dass Sie Miss Bulstrodes ehemaliger Sekretarin eine betrachtliche Summe bezahlten, damit sie den Posten eines angeblichen Nervenzusammenbruchs wegen aufgab. Sie behaupteten ihr gegenuber, eine Journalistin zu sein, die eine Artikelserie uber Madcheninternate schreiben sollte…

Nichts wurde leichter sein, als eines Nachts in die Turnhalle zu gehen und die Juwelen aus dem

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