Prolog
Es war der erste Tag nach den Osterferien im Internat Meadowbank. Die Strahlen der spaten Nachmittagssonne fielen uber den breiten, kiesbestreuten Weg, der zum Schulhaus fuhrte. In der weit geoffneten Haustur stand Miss Vansittart, fur die der georgianische Stil des Hauses den idealen Rahmen abgab. Sie trug einen elegant geschnittenen Mantel mit einem passenden Rock und eine tadellos sitzende Frisur.
Es gab Eltern, die sie fur Miss Bulstrode selbst hielten; sie ahnten nicht, dass sich die Schulleiterin in ihre Privatgemacher zuruckzuziehen pflegte, in die nur wenige bevorzugte Besucher vorgelassen wurden.
Neben Miss Vansittart stand Miss Chadwick – nicht ganz so huldvoll, nicht ganz so vornehm, jedoch uberaus freundlich und zuvorkommend. Sie wusste uber alles Bescheid und schien mit dem Madchenpensionat Meadowbank so eng verbunden zu sein, dass man sich die Schule ohne sie kaum vorstellen konnte. Tatsachlich war das Internat von Miss Chadwick und Miss Bulstrode gemeinsam gegrundet worden.
Miss Chadwick trug einen Kneifer, war unmodern gekleidet, ging in gebuckter Haltung, druckte sich oft etwas unklar aus und war eine geniale Mathematikerin.
Miss Vansittart begru?te Eltern und Schulerinnen mit liebenswurdigen Worten und Gesten.
»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs Arnold… Wie war die Griechenlandreise, Lydia?«
»Jawohl, Lady Garnett, Miss Bulstrode hat Ihren Brief erhalten und die Kunstgeschichtsstunden arrangiert.«
»Wie geht es Ihnen, Mrs Bird?… Ich furchte, Miss Bulstrode wird heute keine Zeit haben, die Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen. Mochten Sie sich vielleicht inzwischen mit Miss Rowan unterhalten?«
»Wir haben Ihnen ein anderes Zimmer gegeben, Pamela. Sie sind jetzt im au?ersten Flugel, gegenuber dem Apfelbaum…«
»Ja, bisher war dieser Fruhling nicht sehr schon, Lady Violet. Furchtbar schlechtes Wetter… Ist das Ihr Jungster? Wie hei?t er? Hector?… Du hast wirklich ein prachtvolles Flugzeug, Hector.«
»Guten Tag, Professor. Haben Sie inzwischen wieder interessante Ausgrabungen gemacht?«
In einem kleinen Zimmer im ersten Stock sa? Ann Shapland, Miss Bulstrodes Sekretarin, an der Schreibmaschine. Sie tippte schnell und ordentlich. Ann war eine gut aussehende junge Frau von 35; ihr glattes schwarzes Haar wirkte wie eine eng anliegende Satinkappe. Wenn sie wollte, konnte sie charmant und reizvoll sein, aber das Leben hatte sie gelehrt, dass man mit Flei? und Tuchtigkeit oft bessere Resultate erzielte und gleichzeitig peinliche Verwicklungen vermied. Im Augenblick konzentrierte sie sich darauf, die erstklassige Sekretarin der Leiterin einer beruhmten Schule zu sein.
Hin und wieder, wenn sie ein neues Blatt einspannte, blickte sie aus dem Fenster, um die Neuankommlinge zu betrachten.
»Fantastisch! Ich wusste gar nicht, dass es in England noch so viele hochherrschaftliche Chauffeure gibt«, sagte sie leise vor sich hin.
Sie musste unwillkurlich lacheln, als ein majestatischer Rolls-Royce abfuhr und ein kleiner, altmodischer Austin vor dem Eingang hielt. Ein sehr nervoser Vater, gefolgt von einer bedeutend gelassener wirkenden Tochter, stieg aus dem Wagen. Er sah sich unsicher um, und sofort ging Miss Vansittart auf ihn zu, um ihn zu begru?en.
»Major Hargreaves? Und das ist also Alison? Bitte treten Sie doch ein. Sie mochten sicherlich Alisons Zimmer sehen, nicht wahr?«
Ann grinste und begann wieder zu tippen.
»Gute alte Vansittart«, murmelte sie. »Sie hat der Bulstrode wahrhaftig alles abgeguckt. Sie benutzt sogar die gleichen Redewendungen.«
Jetzt fuhr ein geradezu unwahrscheinlich machtiger Cadillac vor. Der zweifarbige Wagen war azurblau und himbeerfarben lackiert und so lang, dass er nur mit Muhe um die Ecke biegen konnte.
Er hielt hinter Major Hargreaves’ altem Austin.
Der Chauffeur riss den Wagenschlag auf. Ein stattlicher, dunkelhautiger bartiger Mann, umhullt von einem wallenden orientalischen Gewand, stieg aus; ihm folgten eine nach letztem Pariser Schick gekleidete Dame und ein schlankes, schwarzhaariges Madchen.
Das muss die Prinzessin soundso sein, dachte Ann. Ich kann sie mir beim besten Willen nicht in einer Schuluniform vorstellen…
Jetzt naherten sich Miss Vansittart und Miss Chadwick gleichzeitig den Besuchern.
Die werden ins Allerheiligste gefuhrt, entschied Ann.
Dann uberlegte sie sich, dass es wohl nicht schicklich sei, sich uber eine so respektable Personlichkeit wie diese Bulstrode lustig zu machen.
Nimm dich lieber zusammen und mach keine Tippfehler, ermahnte sie sich.
Aber im Allgemeinen arbeitete Ann tadellos und konnte sich ihre Stellungen aussuchen. Sie war sowohl beim Direktor einer Olgesellschaft wie bei Sir Mervyn Todhunter als Privatsekretarin tatig gewesen, au?erdem bei zwei Ministern und bei einem hohen Beamten. Bisher hatte sie allerdings immer fur Herren der Schopfung gearbeitet und fragte sich nun, ob sie sich wohl an eine Umgebung gewohnen wurde, die ausschlie?lich aus Frauen bestand. Wie dem auch sei, es war einmal eine Abwechslung, und man konnte ja immer auf den treuen Dennis zuruckgreifen! Dennis anderte sich nie; ob er aus Burma kam, von den Malaiischen Inseln oder aus irgendeinem anderen Teil der Welt, machte nicht den geringsten Unterschied. Er fragte sie jedes Mal bei seiner Ruckkehr, ob sie ihn nicht doch heiraten wolle. Der gute Dennis! Leider ware es recht langweilig, mit ihm verheiratet zu sein, fand Ann.
In der unmittelbaren Zukunft musste sie jedenfalls auf Herrengesellschaft verzichten, denn bis auf einen achtzigjahrigen Gartner gab es hier nur junge Madchen und mehr oder weniger vertrocknete Lehrerinnen. Doch in diesem Augenblick erlebte Ann eine angenehme Uberraschung. Als sie zum Fenster hinaussah, entdeckte sie einen jungen, gut aussehenden Mann – zweifellos auch ein Gartner –, der die Hecke bei der Einfahrt stutzte. Er machte nicht den Eindruck eines Bauernburschen, aber heutzutage verdienten sich ja junge Leute aus den verschiedensten Kreisen etwas zusatzlich. Allerdings schien er sich auf seine Arbeit zu verstehen, denn er beschnitt die Hecke schnell und geschickt. Wahrscheinlich war er eben doch ein gewohnlicher Gartner.
Eigentlich sieht er sehr nett und lustig aus, dachte Ann…
Erfreulicherweise hatte sie nur noch einen Brief zu schreiben, danach wurde sie einen Spaziergang durch den Garten machen…
Miss Johnson, die Hausmutter, war damit beschaftigt, neuen Schulerinnen ihre Zimmer anzuweisen und die alten herzlich zu begru?en. Sie freute sich, dass die Schule wieder begann, denn wahrend der Ferien wusste sie nicht viel mit ihrer Zeit anzufangen. Sie hatte zwei verheiratete Schwestern, die sie abwechselnd besuchte und die sich begreiflicherweise mehr fur ihre eigenen Familien interessierten als fur das Leben und Treiben in Meadowbank. Miss Johnson dagegen, obgleich sie pflichtschuldigst an ihren Schwestern hing, interessierte sich ausschlie?lich fur Meadowbank.
»Miss Johnson?«
»Ja, Pamela?«
»Ach, Miss Johnson, in meinem Koffer muss etwas ausgelaufen sein, ich glaube, es ist mein Haarwasser, und jetzt ist alles durchnasst. Was soll ich nur tun?«
»Kein Anlass zur Aufregung, Pamela. Ich komme schon!«
Mademoiselle Blanche, die neue Franzosischlehrerin, schlenderte uber die Rasenflache hinter dem breiten Kiesweg. Sie betrachtete wohlgefallig den kraftigen jungen Mann, der die Hecke stutzte.
Mademoiselle Blanche war ein dunnes, nicht sehr bemerkenswertes weibliches Wesen; sie selbst allerdings bemerkte alles.
Sie betrachtete die Prozession der eleganten Wagen, die vor dem Haus vorfuhren. Die meisten Schulerinnen von Meadowbank schienen schwerreiche Eltern zu haben –