»Wie?«

Er hebt die Flasche. Auf die Ruckseite ist unten ein winziges Schildchen geklebt: J. Brockmann, Delikatessen, Marienstra?e 18.»So ein Gauner!«sagt er vergnugt.»Und was fur Augen er noch hat!«

»Augen!«sage ich.»Ubermorgen nacht wird er daran zweifeln, wenn er nach Hause kommt und den Obelisken nicht mehr ?ndet. Auch seine Welt wird fur ihn einsturzen.«

»Sturzt deine ein?«fragt Georg.

»Taglich«, erwidere ich.»Wie sollte man sonst leben?«

Zwei Stunden vor der Abfahrt glauben wir drau?en Trappeln, Stimmen und Tone zu horen.

Gleich darauf geht es auf der Stra?e vierstimmig los:

»Heil’ge Nacht, o gie?e du

Himmelsfrieden in dies Herz -«

Wir treten ans Fenster. Auf der Stra?e steht Bodo Ledderhoses Verein.»Was ist denn das?«frage ich.»Mach Licht, Georg!«

Im matten Schein, der vom Fenster auf die Stra?e fallt, erkennen wir Bodo.»Es gilt dir«, sagt Georg.»Ein Abschiedsstandchen deines Vereins. Vergi? nicht, da? du dort Mitglied bist.«

»Schenk dem muden Pilger Ruh, holde Labung seinem Schmerz -«tont es machtig weiter.

Fenster offnen sich.»Ruhe!«schreit die alte Konersmann.

»Es ist Mitternacht, ihr besoffenes Gesindel!«

»Hell schon ergluhn die Sterne, leuchten in blauer Ferne -«

Lisa erscheint im Fenster und verneigt sich. Sie glaubt, das Standchen gelte ihr.

Kurz darauf ist die Polizei da.»Gehen Sie auseinander!«kommandiert eine markige Stimme.

Die Polizei hat sich mit der De?ation geandert. Sie ist scharf und energisch geworden. Der alte Preu?engeist ist wieder da.

Jeder Zivilist ist ein ewiger Rekrut.

»Nachtliche Ruhestorung!«schnauzt der amusische Uniformtrager.

»Verhaftet sie!«heult die Witwe Konersmann.

Bodos Verein besteht aus zwanzig handfesten Sangern. Dagegen stehen zwei Polizisten.»Bodo«, rufe ich besorgt.»Ruhrt sie nicht an! Verteidigt euch nicht! Ihr kommt sonst fur Jahre ins Zuchthaus!«

Bodo macht eine beruhigende Geste und singt mit weit offenem Munde:

»Mochte mit dir so gerne ziehn – himmelwarts.«

»Ruhe, wir wollen schlafen!«schreit die Witwe Konersmann.

»Heda!«ruft Lisa den Polizisten zu.»La?t doch die Sanger in Ruhe! Warum seid ihr nicht da, wo gestohlen wird?«

Die Polizisten sind verwirrt. Sie kommandieren noch ein paarmal:»Alles zur Polizeistation!«- aber niemand ruhrt sich. Bodo beginnt die zweite Strophe. Die Polizisten tun schlie?lich, was sie konnen – sie verhaften jeder einen Sanger.»Verteidigt euch nicht!«rufe ich.»Es ist Widerstand gegen die Staatsgewalt!«

Die Sanger leisten keinen Widerstand. Sie lassen sich abfuhren.

Der Rest singt weiter, als ware nichts geschehen. Die Station ist nicht weit. Die Polizisten kommen im Laufschritt wieder und verhaften zwei weitere Sanger. Die andern singen weiter; aber der erste Tenor ist recht schwach geworden. Die Polizisten verhaften von rechts; beim drittenmal wird Willy abgefuhrt, und damit ist der erste Tenor zum Schweigen gebracht. Wir reichen Bier?aschen aus den Fenstern.»Halte aus, Bodo!«sage ich.

»Keine Angst! Bis zum letzten Mann!«

Die Polizei kommt wieder und verhaftet im zweiten Tenor. Wir haben kein Bier mehr und stiften unsern Korn. Zehn Minuten spater singen nur noch die Basse. Sie stehen da, ohne hinzuschauen, wie verhaftet wird. Ich habe einmal gelesen, da? Walro?herden so unbeteiligt bleiben, wahrend Jager unter ihnen mit Keulen die Nachbarn erschlagen – und gesehen habe ich, da? ganze Volker im Kriege dasselbe tun.

Nach einer weiteren Viertelstunde steht Bodo Ledderhose allein da. Die schwitzenden, wutenden Polizisten kommen zum letztenmal angaloppiert. Sie nehmen Bodo in die Mitte. Wir folgen ihm zur Station. Bodo summt einsam weiter.»Beethoven«, sagt er kurz und summt wieder, eine einzelne musikalische Biene.

Aber plotzlich ist es, als ob Windharfen ihn aus unendlicher Ferne begleiteten. Wir horchen auf. Es klingt wie ein Wunder – aber Engel scheinen tatsachlich mitzusummen, Engel im ersten und zweiten Tenor und in den beiden Bassen. Sie umschmeicheln und umgaukeln Bodo und werden deutlicher, je weiter wir kommen, und als wir um die Kirche biegen, konnen wir die ?iegenden, korperlosen Stimmen sogar verstehen. Sie singen»Heil’ge Nacht, o gie?e du -«, und an der nachsten Ecke erkennen wir, woher sie kommen: aus der Polizeiwache, in der Bodos verhaftete Kameraden furchtlos stehen und weitersingen, ohne sich um etwas zu kummern. Bodo als Dirigent tritt zwischen sie, als ware das die alltaglichste Sache von der Welt, und weiter geht es:»Schenk dem muden Pilger Ruh -«

»Herr Kroll, was soll das?«fragt der Vorsteher der Wache perplex.

»Es ist die Macht der Musik«, erwidert Georg.»Ein Abschiedsstandchen fur einen Menschen, der in die Welt hinausgeht. Harmlos und eigentlich zu fordern.«

»Das ist alles?«

»Das ist alles.«

»Es ist nachtliche Ruhestorung«, erklart einer der Verhafter.

»Ware es auch nachtliche Ruhestorung, wenn sie „Deutschland, Deutschland uber alles“ sangen?«frage ich ihn.

»Das ware was anderes!«

»Wer singt, stiehlt nicht, mordet nicht und versucht nicht, die Regierung zu sturzen«, erklart Georg dem Vorsteher der Wache.»Wollen Sie den ganzen Chor einsperren, weil er das alles nicht tut?«

»Werft sie raus!«zetert der Vorsteher.»Aber sie sollen jetzt ruhig bleiben.«

»Sie werden ruhig bleiben. Sie sind kein Preu?e, wie?«

»Franke.«

»Das dachte ich mir«, sagt Georg.

Wir stehen am Bahnhof. Es ist windig, und niemand ist au?er uns auf dem Perron.»Du wirst mich besuchen, Georg«, sage ich.»Ich werde alles daransetzen, die Frauen deiner Traume kennenzulernen. Zwei bis drei werden fur dich da sein, wenn du kommst.«

»Ich komme.«

Ich wei?, da? er nicht kommen wird.»Du bist es allein schon deinem Smoking schuldig«, sage ich.»Wo sonst konntest du ihn anziehen?«

»Das ist wahr.«

Der Zug bohrt ein paar gluhende Augen in das Dunkel.

»Halte die Fahne hoch, Georg! Du wei?t, wir sind unsterblich.«

»Das sind wir. Und du, la? dich nicht unterkriegen. Du bist so oft gerettet worden, da? du die Verp?ichtung hast, weiter durchzukommen.«

»Klar«, sage ich.»Schon der andern wegen, die nicht gerettet wurden. Schon Valentins wegen.«

»Unsinn. Einfach, weil du lebst.«

Der Zug braust in die Halle, als warteten funfhundert Leute auf ihn. Aber nur ich warte. Ich suche ein Abteil und steige ein. Das Abteil riecht nach Schlaf und Menschen. Ich ziehe das Fenster im Gang auf und lehne mich hinaus.»Wenn man etwas aufgibt, braucht man es nicht zu verlieren«, sagt Georg.»Nur Idioten tun das.«

»Wer redet schon von Verlieren«, erwidere ich, wahrend der Zug anzieht.»Da wir sowieso am Ende verlieren, konnen wir uns erlauben, vorher zu siegen wie die ge?eckten Waldaffen.«

»Siegen die immer?«

»Ja – weil sie gar nicht wissen, was das ist.«

Der Zug rollt bereits. Ich fuhle Georgs Hand. Sie ist zu klein und zu weich, und in der Schlacht an der Pi?bude hat sie Schrammen bekommen, die noch nicht heil sind. Der Zug wird schneller, Georg bleibt zuruck, er istplotzlich alter und blasser, als ich dachte, ich sehe nur noch seine blasse Hand und seinen blassen Kopf, und dann ist nichts mehr da als der Himmel und das ?iegende Dunkel.

Ich gehe in das Abteil. Ein Reisender mit einer Brille rochelt in einer Ecke; ein Forster in einer andern. In der

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