»Hallo.« Vivians Gru? klang etwas undeutlich, denn sie hatte gerade mit gesundem Appetit in ein Huhnerbein gebissen. Sie deutete auf ihren Mund und muffelte: »Entschuldigen Sie.«

»Macht gar nichts«, sagte Seddons. »Lassen Sie sich Zeit. Ich sitze hier, um Ihnen einen Antrag zu machen.«

Sie schluckte den Bissen Huhn hinunter und sagte dann: »Ich dachte immer, das kame spater.«

Mike Seddons grinste. »Haben Sie noch nichts davon gehort? Wir leben im Dusenzeitalter. Keine Zeit mehr zu Formalitaten. Hier ist mein Antrag: Ubermorgen ins Theater, vorher Abendessen im Cuban Grill.«

Vivian fragte vorsichtig: »Konnen Sie sich das leisten?« Zwischen den angestellten Arzten und den Lernschwestern war Geldmangel ein in Ehren grau gewordenes Gebiet fur klagliche Witze.

Seddons senkte seine Stimme zu einem Buhnenflustern. »Verraten Sie es keiner Seele. Aber ich habe eine Quelle fur Nebeneinnahmen gefunden. Die Patienten, die zur Obduktion kommen... Viele haben Goldzahne... Es ist ganz einfach...«

»Oh, horen Sie auf! Sie verderben mir den Appetit.« Sie bi? wieder in ihr Huhnerbein, und Seddons griff uber den Tisch und nahm sich zwei ihrer Pommes frites.

Mit Genu? kaute er. »Hm, hm, nicht schlecht. Ich mu? ofter essen. Die Geschichte ist folgende.« Er zog zwei Theaterbillets aus der Tasche und einen vorgedruckten Gutschein. »Sehen Sie sich das an. Die Anerkennung eines dankbaren Patienten.« Die Billets waren fur eine Gastvorstellung eines BroadwayMusicals. Der Gutschein galt fur ein Abendessen fur zwei Personen im Cuban Grill.

»Was haben Sie angefangen?« Vivian zeigte offen ihre Neugier. »Eine Herzoperation?«

»Nein. Vergangene Woche sprang ich fur eine halbe Stunde fur Frank Worth in der Unfallambulanz ein. Ein Mann mit einem bosen Schnitt an der Hand kam, den ich nahte. Ein paar Tage spater brachte mir die Post das hier.« Er lachte. »Worth ist jetzt naturlich wutend. Er sagt, er wird nie wieder seinen Posten verlassen. Kommen Sie mit?«

»Mit dem gro?ten Vergnugen«, antwortete Vivian aufrichtig.

»Gro?artig. Ich werde Sie um sieben Uhr im Schwesternheim abholen. Alles klar?« Wahrend er sprach, betrachtete Mike Seddons das Madchen mit noch gro?erem Interesse als bisher. Plotzlich war ihm bewu?t, da? sie sehr vieles mehr als nur ein hubsches Gesicht und eine gute Figur hatte. Wenn sie ihn ansah und lachelte, loste sie in ihm die Empfindung von etwas Warmem und Duftigem aus. Er sagte: »Schade, da? ich Sie nicht schon heute, sondern erst ubermorgen treffe. Bis dahin ist noch so lang.« Dann gab ihm eine schwache, warnende Stimme zu bedenken: Vorsicht vor Bindungen. Vergi? nicht Seddons Politik: Liebe sie und lasse sie. Sei glucklich mit den Erinnerungen. Sich trennen ist su? und schmerzlich, aber es ist sehr praktisch, wenn man sich nicht binden will.

»Gut«, antwortete Vivian. »Ich komme vielleicht ein paar Minuten spater, aber nicht sehr lange.«

Anderthalb Wochen waren vergangen, seit Harry Tomaselli O'Donnell mitgeteilt hatte, da? geplant wurde, im Fruhjahr mit dem Erweiterungsbau des Krankenhauses zu beginnen. Jetzt trafen er und Kent ODonnell mit Orden Brown im Buro des Verwaltungsdirektors zusammen, um uber die unmittelbar nachsten Schritte zu beraten.

Vor Monaten hatten die drei gemeinsam mit einem Architekten detaillierte Plane fur jede Abteilung ausgearbeitet, die in dem neuen Flugel untergebracht werden sollte. Die Wunsche der Leiter der medizinischen Abteilungen mu?ten auf die Mittel, die vermutlich zur Verfugung standen, abgestimmt werden. Orden Brown hatte als Schiedsrichter gewirkt und O'Donnell als medizinischer Berater. Wie immer war der Vorsitzende knapp und entschieden gewesen, aber seine grundsatzliche Harte wurde durch seinen Humor gemildert. Manchmal hatten sie allem zugestimmt, was verlangt wurde. In anderen Fallen, wenn sie vermuteten, da? einer sich aus eigensuchtigen Grunden ein Reich aufbauen wollte, hatten sie schonungslos den Grunden fur die Wunsche nachgeforscht.

Einer der Abteilungsleiter, der Chefapotheker, hatte hartnackig daraufgedrangt, da? in dem Entwurf fur sein Arbeitszimmer eine eigene Toilette vorgesehen werden solle. Als der Architekt darauf hinwies, da? ausreichende, allgemein zugangliche sanitare Einrichtungen zwolf Meter weiter im Gang lagen, hatte der Apotheker sich nicht gescheut, dem entgegenzuhalten, zwolf Meter seien ein langer Weg, wenn man unter einem der periodischen Anfalle von Durchfall leide. Darauf hatte Orden Brown nur trocken bemerkt, im Krankenhaus gebe es eine Abteilung fur innere Medizin.

Ein paar Projekte, die es wert waren, mu?ten ausschlie?lich aus Kostenrucksichten abgelehnt werden. Dingdong Bell, der Chef der Rontgenabteilung, hatte sich uberzeugend fur eine Kamera fur kinematographische Rontgenaufnahmen eingesetzt, die fur die Diagnose und Behandlung von Herzkrankheiten eine wesentliche Verbesserung darstellte. Als man aber feststellte, da? diese Anlage allein funfzigtausend Dollars kostete, mu?te der Plan mit dem gro?ten Bedauern abgelehnt werden.

Aber jetzt, nachdem die Hauptplanung beendet war, konzentrierten sich alle Bemuhungen auf das praktische Problem, das Geld zu beschaffen. Genaugenommen gehorte das zu den Aufgaben des Krankenhausausschusses, aber man erwartete auch Beitrage von der Arzteschaft. Orden Brown sagte: »Wir schlagen fur die Arzte Quoten vor: sechstausend fur die leitenden Arzte, viertausend fur die alteren Belegarzte und zweitausend fur die jungeren.«

O'Donnell stie? einen leisen Pfiff aus. »Ich furchte, da werden wir auf Widerstand sto?en«, erklarte er dem Vorsitzenden.

Brown lachelte. »Wir mussen versuchen, ihn zu uberwinden.«

Harry Tomaselli warf ein: »Die Zahlungen konnen uber vier Jahre verteilt werden, Kent. Wenn wir die schriftliche Verpflichtung vorliegen haben, bekommen wir darauf Geld von der Bank.«

»Die Sache hat noch eine andere Seite«, sagte Brown. »Wenn in der Stadt bekannt wird, da? sich die Arzte selbst an den Spenden beteiligen, wird unsere Sammelaktion sehr gefordert werden.«

»Und Sie wollen dafur sorgen, da? es bekannt wird?«

»Selbstverstandlich«, versicherte Brown lachelnd.

O'Donnell uberlegte, da? es ihm zufallen wurde, diesen Plan bei einer Zusammenkunft der Arzte bekanntzugeben. Er sah ihre erbitterten Mienen jetzt schon vor sich. Ihm war bekannt, da? die meisten Arzte wie die meisten Menschen heutzutage uberhaupt ihr Einkommen fur ihren Lebensunterhalt verbrauchten. Naturlich konnte man nicht erzwingen, da? sie die festgelegten Quoten einhielten, aber es wurde dem einzelnen schwerfallen, gegen ihre Hohe zu protestieren, insbesondere, da die Arzte selbst durch eine Vergro?erung des Krankenhauses viel zu gewinnen hatten. Ein gro?er Teil wurde den vorgeschlagenen Betrag zweifellos spenden und, wie die menschliche Natur nun einmal geartet war, wurden gerade sie auch darauf drucken, da? die anderen in gleicher Weise bluteten. Ein Krankenhaus war ein Nahrboden fur Intrigen und bot viele Moglichkeiten, einem Nonkonformisten das Leben sauer zu machen.

Wie immer verstand Harry Tomaselli intuitiv O'Donnells Bedenken und versicherte: »Keine Sorge, Kent. Ich werde Sie vor dieser Konferenz grundlich informieren. Wir werden alle uberzeugenden Argumente zusammenstellen. Nach Ihren Ausfuhrungen sind manche vielleicht sogar bereit, die Quote zu uberschreiten.«

»Verlassen Sie sich nicht zu sehr darauf.« O'Donnell lachelte. »Sie stehen im Begriff, ein paar Kollegen an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen: ihrer Brieftasche.«

Tomaselli lachelte verstandnisvoll zuruck. Wenn der Chef der Chirurgie seinen Appell vor den Arzten vorbrachte, wurde das so klar und grundlich geschehen wie alles andere, was O'Donnell tat. Das wu?te Tomaselli. Nicht zum erstenmal ging es ihm durch den Kopf, wie gut es sich mit einem Mann von O'Donnells Charakter zusammenarbeiten lie?. An dem Krankenhaus, an dem Tomaselli die Stellung als stellvertretender Verwaltungsdirektor innegehabt hatte, war der Prasident des medizinischen Ausschusses ein Mann gewesen, der nach Popularitat haschte und seine Segel stets nach dem Wind setzte. Infolgedessen hatte es keine rechte Fuhrung gegeben, worunter der Standard in dem Krankenhaus entsprechend litt.

Harry Tomaselli bewunderte Leute, die sich ohne Umschweife und rasch entschlossen, vorwiegend, weil das die Art und Weise war, in der er selbst als Verwaltungsdirektor das Three Counties Hospital leitete. Bei schnellen Entschlussen begeht man manchmal Fehler. Aber im ganzen gesehen erreichte man damit mehr, und durchschnittlich stieg im Laufe der Zeit die Zahl der richtigen Entscheidungen. Schnelligkeit im Reden und Denken sowohl als auch im Handeln hatte Harry Tomaselli im Gerichtssaal gelernt, lange ehe er daran dachte, da? seine Laufbahn ihn hinter einen Schreibtisch in einem Krankenhaus fuhren wurde.

Nach seiner Collegezeit hatte er Jura studiert und begann gerade die Grundlagen fur eine gute Praxis zu legen, als der Krieg dazwischenkam. In der Erwartung, da? er doch eingezogen wurde, hatte er sich zur Marine

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