»Aber das konnen Sie doch nicht. Das ist lacherlich.« Das war der alte, aggressive Pearson, sein kriegerischer Ton, mit Augen, die hinter der Maske der Erschopfung funkelten. Er tobte weiter: »Aber Mann Gottes, wir werden die ganze Nacht arbeiten, und bis morgen mittag sind wir mit allen unseren Unterkulturen durch. Wenn es einen Trager gibt, haben wir ihn bis dahin aller Wahrscheinlichkeit nach entdeckt.«

»Es tut mir leid.« Der Gesundheitsbeamte schuttelte ablehnend den Kopf. »Wir durfen das nicht riskieren.«

»Aber die Kuche schlie?en bedeutet das Krankenhaus schlie?en«, wutete Pearson. »Sie werden doch bis morgen noch warten konnen, wenigstens noch so lange.«

»Ich furchte nein.« Dr. Ford blieb hoflich, aber unnachgiebig. »Au?erdem liegt die Entscheidung nicht ausschlie?lich bei mir. Die Stadt kann sich nicht einfach der Gefahr einer verheerenden Epidemie aussetzen. Im Augenblick beschranken sich die Falle auf Ihr Krankenhaus, aber sie konnen jeden Augenblick weiter um sich greifen. Das mussen wir berucksichtigen.«

Harry Tomaselli warf dazwischen: »Wir geben noch das Abendessen aus, Joe, und das ist die letzte Mahlzeit. Wir schicken alle Patienten nach Hause, die wir entlassen konnen, und verlegen die meisten in andere Krankenhauser.«

Es herrschte Schweigen. Pearsons Gesichtsmuskeln arbeiteten. Seine tiefliegenden, rotgeranderten Augen schienen den Tranen nahe. Fast flusternd sagte er: »Ich hatte nie geglaubt, den Tag zu erleben.«

Wahrend sich die Gruppe abwandte, sagte O'Donnell still: »Offen gesagt, Joe, ich auch nicht.«

Sie hatten die Tur erreicht, als John Alexander ausrief: »Hier habe ich es!«

Wie auf einen Befehl drehte sich die Gruppe um. Pearson fragte scharf: »Was haben Sie entdeckt?«

»Eine eindeutige Typhusreaktion.« Alexander deutete auf die Reihe der Reagenzglaser mit den Zuckerlosungen, die er untersucht hatte.

»Lassen Sie mich sehen.« Pearson lief fast durch das Labor. Die anderen traten naher. Pearson betrachtete die Reihe Reagenzglaser. Seine Zunge fuhr nervos uber die Lippen. Wenn Alexander recht hatte, war das der Augenblick, fur den sie gearbeitet hatten. »Lesen Sie von der Tabelle ab«, befahl er.

Alexander nahm das Handbuch auf, in dem eine Tafel aufgeschlagen war. Es war die Tabelle der biochemischen Reaktionen von Bakterien in Zuckerlosungen. Er legte einen Finger auf die Spalte mit der Uberschrift >Salmonella typhi< und war bereit, vorzulesen.

Pearson nahm das erste der zehn Reagenzglaser. Er rief auf: »Glukose.«

Alexander verglich auf der Liste und antwortete: »Saurebildung, aber kein Gas.«

Pearson nickte. Er stellte das Glas zuruck und nahm das nachste. »Laktose.«

»Keine Saure, kein Gas«, las Alexander vor.

»Richtig.« Eine Pause. »Dulcitol.«

Wieder las Alexander: »Keine Saure, kein Gas.«

»Sucrose.«

»Keine Saure, kein Gas.« Wieder die richtige Reaktion fur Typhusbazillen. Die Spannung in dem Raum wuchs.

Pearson nahm das nachste Glas. »Mannitol.«

»Saurebildung, aber kein Gas.«

»Richtig.« Die nachste: »Maltose.«

»Saure, aber kein Gas.«

Pearson nickte. Das waren sechs. Es blieben noch vier. Jetzt sagte er: »Xylose.« Noch einmal las Alexander: »Saure, aber kein Gas.« Sieben. »Arabinose.«

John Alexander las: »Entweder Saure, aber kein Gas, oder gar keine Reaktion.« Pearson verkundete: »Keine Reaktion.« Acht. Noch zwei. »Rhamnose.« »Keine Reaktion.«

Pearson prufte das Glas. Leise bestatigte er: »Keine Reaktion.«

Noch eine.

Von dem letzten Glas las Pearson ab: »Indol-Bildung. « »Negativ«, antwortete Alexander und legte das Buch zuruck.

Pearson wandte sich den anderen zu. Er sagte: »Es besteht keine Frage: Das ist der Typhustrager.« »Wer ist es?« Der Verwaltungsdirektor fragte als erster. Pearson drehte die Petrischale um. Er las die Nummer ab:

»Zweiundsiebzig. «

David Coleman hatte schon nach einem Schreibheft gegriffen. Es enthielt die Liste des Personals in seiner eigenen Handschrift. Er gab bekannt: »Charlotte Burgess.«

»Ich kenne sie«, sagte Mrs. Straughan schnell. »Sie arbeitet an der Essenausgabe.«

Unwillkurlich sahen alle auf die Uhr. Es war sieben Minuten nach funf.

Mrs. Straughan rief erschrocken: »Das Abendessen! Sie fangen gerade an, es auszugeben.«

»Schnell in die Kantine.« Noch ehe er ausgesprochen hatte, war Harry Tomaselli bereits an der Tur.

Im zweiten Stock des Krankenhauses trat die Oberschwester der Station mit gehetztem Ausdruck in Vivians Zimmer und warf dabei einen schnellen Blick auf die Zimmernummer.

»Ah ja, Sie sind Miss Loburton.« Sie sah auf ihre Notiztafel und machte mit ihrem Bleistift eine Notiz. »Sie werden in die West-Burlington-Klinik verlegt.«

Vivian fragte: »Wann denn, bitte?« Sie hatte schon fruher am Nachmittag von der bevorstehenden Verlegung und ihren Grunden erfahren.

»Die Krankenwagen haben sehr viel zu tun«, antwortete die Oberschwester. »Ich vermute, es wird noch ein paar Stunden dauern. Wahrscheinlich gegen neun Uhr heute abend. Ihre Stationsschwester wird rechtzeitig kommen, um Ihnen zu helfen.«

»Danke«, antwortete Vivian.

Mit ihren Gedanken schon wieder bei ihrer Notiztafel, nickte die Oberschwester und ging hinaus. Jetzt war es Zeit, entschied Vivian, Mike zu rufen. Ihre funf Tage der Trennung waren erst morgen voruber, aber keiner von beiden hatte mit etwas Derartigem gerechnet. Au?erdem bereute sie schon ihren ganzen Einfall mit der Trennungszeit. Sie sah jetzt ein, da? er eine dumme Idee und uberflussig war, und wunschte, sie sei nie darauf gekommen.

Sie streckte die Hand nach dem Telefon auf dem Nachttisch aus, und diesmal zogerte sie nicht. Als sich die Zentrale meldete, sagte Vivian: »Dr. Michael Seddons, bitte.«

»Einen Augenblick.«

Sie mu?te ein paar Minuten warten, ehe sich die Zentrale wieder meldete. »Dr. Seddons ist nicht im Krankenhaus. Er ist mit einem der Krankenwagen unterwegs. Kann Ihnen ein anderer Arzt helfen?«

»Nein, danke«, antwortete Vivian. »Ich wurde aber gern eine Nachricht fur ihn hinterlassen.«

Die Zentrale fragte: »Betrifft es eine medizinische Angelegenheit?«

Sie zogerte. »Nein, eigentlich nicht.«

»Wir konnen jetzt nur dringende medizinische Benachrichtigungen ubernehmen. Rufen Sie bitte spater wieder an.« Es folgte ein Knacken, und die Leitung war tot. Langsam legte Vivian den Horer zuruck.

Von drau?en auf dem Gang konnte sie Unruhe und erhobene Stimmen vernehmen. Sie spurte die allgemeine Aufregung. Ein scharfer Befehl wurde gegeben, dann folgte ein Klappern, als etwas zu Boden fiel, und jemand lachte. Es klang ganz alltaglich, und doch wunschte sie sich in diesem Augenblick, dabeizusein, an dem, was vorging, teilnehmen zu konnen. Dann fiel ihr Blick auf das Bett, auf den Punkt, wo ihr linkes Bein endete und die Decke unvermittelt flach abfiel. Zum erstenmal spurte Vivian eine plotzliche Angst und fuhlte sich verzweifelt einsam.

»Oh, Mike«, flusterte sie, »Mike, Liebling, wo du auch bist, bitte, komm bald zu mir.«

Schwester Penfield war im Begriff, die Kantine zu betreten, als sie die Gruppe erblickte, die hinter ihr herkam. Sie erkannte den Verwaltungsdirektor und den Chef der Chirurgie. Hinter ihnen bemuhte sich die Kuchenleiterin Mrs. Straughan mit heftig wallendem Busen, mit ihnen Schritt zu halten.

Harry Tomaselli verlangsamte sein Tempo, als sie durch den Eingang der Kantine traten. Er sagte zu Mrs. Straughan: »Es mu? schnell und unauffallig gehen.«

Die Kuchenleiterin nickte, und durch einen Nebeneingang betraten sie die Kuche.

O'Donnell winkte Schwester Penfield. »Kommen Sie bitte mit. Ich mochte, da? Sie uns helfen.«

Was jetzt geschah, erfolgte schnell und prazise. Eben noch hatte eine Frau in mittlerem Alter am Schalter der Kantine Essen ausgegeben, und jetzt hatte Mrs. Straughan sie am Arm ergriffen und fuhrte sie in ihr Buro im

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