Warum man aus der Geschichte lernen kann

»Wunderbar war die Entdeckung von Amerika.

Noch wunderbarer ware es gewesen,

wenn man es nicht entdeckt hatte.«

Mark Twain

Die schonsten Plane, das zeigt die Weltgeschichte immer wieder, konnen sich unversehens in Staub auflosen. Apropos, sehen Sie dort die Staubwolke? Scheinbar zieht ein gewaltiger Heerzug Richtung Westen. Es ist das Jahr 1241, Niederschlesien, wir sitzen auf einer Anhohe. Man erkennt Pferde. Eine riesige Horde von Reitern. Eigentlich sogar die Horde, denn von ihr stammt das deutsche Wort »Horde« her. Namlich vom Wort ordon, zu Deutsch »Palast«, mit dem das Palastzelt des Anfuhrers dieser reitenden Krieger bezeichnet worden sein soll. Ahnen Sie was? Es sind die Mongolen auf ihrem Weg nach Westen. Sie haben soeben mit ihrem Erscheinen alle Kalkulationen auf ein ruhiges, normales Leben vom Tisch gefegt.

Die einen machen weiter wie immer, die anderen andern alles im Handstreich. Das sind die zwei wesentlichen Krafte in der menschlichen Geschichte. Sie kennen das aus Ihrem Buro. Aus dem Aufeinandertreffen dieser Krafte entsteht Uberraschung, das Unvorhersehbare, das Neue, Aufregende, oft auch Todliche. Es ist ein immer gleiches Geschehen, aber in immer neuen Varianten. Was es so interessant macht, das ist der Nutzwert fur die Gegenwart. Wir konnen von unseren Vorfahren lernen, weil sie uns so ahnlich sind. Gut, vielleicht wurden wir ein paar Tische weiterrucken, wenn in unserem Lieblingslokal einer unserer Urahnen aus dem 16. Jahrhundert zum Abendessen erschiene. Schlie?lich waren die damaligen Deutschen in den zivilisierteren Landern Europas beruchtigt fur ihre ungepflegten Tischmanieren. Grundsatzlich aber ware unser Vorfahr gar nicht so ungeheuer fern von unserer Welt, nur eben gepragt von seinen sehr viel harteren Lebensumstanden und einer anderen Erziehung.

Die Welt insgesamt andert sich gar nicht so schnell, wie wir das immer denken. Wenn man sich einmal umsieht in unseren Dorfern und Stadten, dann erkennt man uberall mittelalterliche Stadtplanung. Da ist die Burg, dort das Rathaus, der Markt wurde so breit angelegt, damit die sperrigen Ochsenkarren drauf wenden konnten. Oft stehen sogar die originalen Mauern noch, die von Touristen so gerne besucht und von uns so gerne bewohnt werden. Viele unserer Kirchen stehen seit dem Fruhmittelalter auf demselben Platz. Gut, wir haben in den Gro?stadten die Pferdebahnen des 19. Jahrhunderts elektrifiziert und nennen sie Stra?enbahnen, wir haben in unsere Kutschen Explosionsmotoren eingebaut und nennen sie Autos, aber mit den Stra?en selber folgen wir immer noch den Wegen unserer Vorfahren aus dem Mittelalter. Die Auswirkungen der Geschichte zeigen sich uberall. Bis heute sind wir Deutschen im Ausland dafur beruchtigt, dass wir viel Fleisch und Wurst essen, wenn wir konnen. Das las man so schon zu Zeiten unseres Urahns vor 500 Jahren. Offenbar hat sich gar nicht so viel geandert.

Es ist kein Zufall, dass die Drehbuchautoren der gro?en Hollywood-Filme ihre weltweit erfolgreichen Stories noch immer nach den Mustern antiker griechischer Dramen ausrichten. Da gibt es Geschichten von Verrat und Hass, politischen Intrigen und Familienfehden, von Freundschaften und verschmahter Liebe, von Helden, die etwas Verlorengegangenes mit allen Mitteln zuruckerobern wollen. Zwar stammen diese Erzahlungen aus einer Zeit, als noch leibhaftige Gotter in der sonnendurchgluhten Wildnis Griechenlands herumspazierten, immer auf der Suche nach einem kleinen Abenteuer mit einer gutwilligen Hirtin, aber in seinen Grundzugen funktioniert das antike Theater noch heute, 2500 Jahre spater. Egal, wie verschieden die Ideen vom Leben und Sterben auch gewesen sein mogen, die Grundidee des menschlichen Handelns war und ist doch dieselbe. Wenn man die Aufzeichnungen aus historischer Zeit aufschlagt, sieht man bei allen Unterschieden von Sitten und Gebrauchen immer wieder dasselbe Bild.

Caesar, ohne den es das schone deutsche Wort »Kaiser« nie gegeben hatte, strebt zur Macht, will sie erringen, nimmt tausend Schwierigkeiten in Kauf, fuhrt Krieg in weit entfernten Weltgegenden, arbeitet sich mit todlicher Konsequenz nach oben, um endlich den Lorbeerkranz zu tragen. Dann wird er vom Meuchelmorder aus dem Freundeskreis eben deswegen umgebracht. Sie sagen, Sie kennen die Geschichte schon? Jedenfalls so in etwa, nur ohne Mord? Von Ihrem Vorgesetzten, Amtsdirektor, Bekannten? Von einem bekannten Politiker unserer Zeit? Nehmen Sie statt Caesar John F. Kennedy oder einen anderen gro?en Namen der jungeren Vergangenheit. Schon passt die Sache. Das Rad der Geschichte dreht sich, aber es kommt dabei nur sehr langsam voran. Paradoxerweise lohnt sich gerade deswegen die Betrachtung. Man kann aus der Betrachtung der Geschichte durchaus Nutzliches fur die Gegenwart lernen. Zum Beispiel die Grundmuster politischen Handelns.

Wenn man wieder einmal eine nervtotende Politikerrede gehort hat, kann man sich immer noch an den altromischen Politiker Cato erinnern, der jede, und wirklich jede, seiner zahllosen offentlichen Reden mit dem Satz abschloss: »Ceterum censeo Carthaginem esse delendam«, also: »Im Ubrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstort werden muss.« Das tat er so lange, bis Rom, vollkommen entnervt von diesem unertraglichen Dauerfeuer, wirklich Karthago bis auf die Grundmauern niederbrannte und alle Karthager versklavte. Es hatte in dem Zusammenhang noch andere, weiter reichende Grunde fur diesen verheerenden Kriegszug gegeben, aber Sie konnen sicher sein, dass Cato selbst sein rednerisches Talent als alleinige Ursache ausmachte. Catos endlose, immer wiederkehrende Formel ist sozusagen ein Urahn allen unertraglichen Politiker-sprechs und ein Beweis dafur, wie viel man erreichen kann, wenn man sich einfach immer nur wiederholt.

Ach diese Anfuhrer! Alexander, Caesar, Napoleon, wie sie alle hei?en. Alle wollen irgendwie nach oben. Und wenn sie dort erst mal sind, herrscht im besten Fall Ratlosigkeit. Das starkste Gift der Welt, schrieb der englische Dichter William Blake einmal, wurde aus Caesars Lorbeerkranz destilliert. Alle, die nach ihm kamen, wollten davon kosten, meistens auf Rechnung ihrer naheren und weiteren Umwelt. Man muss es einfach akzeptieren: Die Machtigen unterscheiden sich nicht so wesentlich von uns Normalmenschen, wie man das gerne glauben mag. Gut, manche sind gerissener, skrupelloser, boser, einige wenige vielleicht auch kluger. Sie haben tendenziell bessere Informationsquellen, was aber noch nicht hei?t, dass sie aus diesen Brunnen der Weisheit auch schopfen. Wir sind, wenn man mal ganz ehrlich ist, auch nicht besser, haben aber oft weniger Gelegenheit, Schaden anzurichten. Das ist ein Vorteil, zugegeben, aber an sich noch kein Verdienst. Wer oben auf dem Deck des Flaggschiffs steht, mitten in einer Seeschlacht, und den Admiralshut tragt, der muss auch als Admiral handeln. Der tragt damit auch das Risiko des Irrtums und des Scheiterns. Dummerweise hat das oft verheerende Konsequenzen.

Trotzdem sollte man aus der Geschichte nicht nur das Misstrauen gegenuber allen Machtigen, sondern durchaus auch Verstandnis fur ihre Probleme lernen. Wenn man sich einmal in die Position des Admirals Horatio Nelson versetzt, der im Herbst 1805 vor dem Kap Trafalgar inmitten unertraglichen Larms vom Dauerfeuer mehrerer hundert Kanonen auf Deck seines passend benannten Schiffs »Vict-ory« steht, ungeschutzt im Kugelhagel, inmitten von Pulverdampfschwaden, todlich umherfliegenden Holzsplittern, umgeben von Toten und schreienden Verwundeten, mit seinem gut sichtbaren Hut eine lebende Zielscheibe, dann gewinnt man schon einen gewissen Respekt fur die Leistung dieses Menschen. Mitten im Chaos gibt er noch ganz klare, kontrollierte Anweisungen, die eine Armada von todlich bewaffneten Segelkriegsschiffen zu einem epochalen Sieg fur das British Empire lenken.

Die meisten von uns waren langst kreischend uber Bord gehupft, aber nein, dieser kleine, schmachtige Mann, kriegsverwundet und fruh gealtert, mit nur noch einem Arm und einem Auge, er steht da, gewinnt die Schlacht fur England und lasst sich zur Belohnung von einem feindlichen Scharfschutzen totschie?en. Man mag das blutige Verblendung nennen, aber eine ungewohnliche Leistung ist es doch. Angesichts solcher Heldensagen sollte man allerdings nicht vergessen, dass die meisten edlen Taten der Menschheitsgeschichte niemals aufgeschrieben wurden. Von den Matrosen auf Nelsons Schiffen ist beispielsweise deutlich weniger die Rede. Und den vielen Frauen der Geschichte hat ohnehin nie jemand ein Denkmal gesetzt. Haben Sie einmal gezahlt, wie viele Statuen unter den Monumenten einer beliebigen europaischen Gro?stadt real existierende Frauen der langen europaischen Geschichte zeigen? Vermutlich keine einzige! Diejenigen Brunnen und Denkmalssockel, auf denen die Anwesenheit von Damen nur ein Vorwand ist, lustern entblo?te Weiblichkeit zu zeigen, sollen ausdrucklich nicht mitgezahlt werden.

Die Eroberung der Welt Immer gibt es jemanden, den man nicht mag. Diese Barbaren! Auch so ein Wort, das aus dem alten Griechenland stammt. Damals bezeichnete man damit jene ebenso bedauerns- wie verachtenswerten Menschen, die nicht ordentlich Griechisch sprachen. Ihre raue Rede klange wie »br br«. Daher das Wort barbaroi. Interessanterweise sind es ja immer die anderen, druben, jenseits der Grenze. Man selbst hat selbstverstandlich immer recht. Aus diesem sehr eingeengten Blickwinkel auf das Fremde entstehen oft grobere Ir-rtumer. Man sieht formlich einen Politiker der romischen Zeit vor sich stehen, der im vierten Jahrhundert unserer Zeit inbrunstig die ewige Macht Roms beschwort und seine Rede mit den Worten enden lasst: Diese Barbaren werden niemals genug Macht erringen, um Rom gefahrlich zu werden, denn sie sind unfahig

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