anderen starrten auf sie in ihrem Kinderbettchen hinunter und konnten sich nicht genugtun uber ihre unglaublich feinen Gesichtszuge, ihr entzuckendes blondes Haar, ihre zarte, honigfarbene Haut, und ihr Vater sagte ganz stolz: »Selbst ein Unerfahrener wurde sofort sehen, dass sie eine Prinzessin ist!« Und dann beugte er sich uber ihr Bettchen und flusterte: »Eines Tages wird ein schoner Prinz kommen und dich fortfuhren.« Und er wickelte sanft die warme rosa Decke um sie, und sie versank in einen zufriedenen Schlaf. Ihre Welt war ein rosaroter Traum von Schiffen, hohen Masten und Schlossern, und erst mit funf Jahren begriff sie, dass sie die Tochter eines Marseiller Fischhandlers war, dass die Schlosser, die sie vom Fenster ihres Mansardenzimmers sah, die Lagerhauser am Rande des stinkenden Fischmarktes waren, wo ihr Vater arbeitete, und dass ihre Marine aus der Flotte der alten Fischerboote bestand, die jeden Morgen vor Sonnenaufgang ausfuhr und am Nachmittag zuruckkehrte, um ihre ubel riechende Fracht in die Hafendocks auszuspeien.

Solcherart war das Konigreich Noelle Pages.

Noelles Vater wurde von seinen Freunden gewarnt, was er tue, sei falsch. »Du darfst ihr keine Phantastereien in den Kopf setzen, Jacques. Sie wird sich fur etwas Besseres halten als andere.« Und ihre Prophezeiungen sollten sich bewahrheiten.

Oberflachlich betrachtet ist Marseille eine gewalttatige Stadt, von jener Art primitiver Gewalttatigkeit, wie sie in jeder Hafenstadt entsteht, die von hungrigen Seeleuten mit zuviel Geld und schlauen Raubern, die es ihnen wieder abnehmen, wimmelt. Jedoch unterscheidet sich das Volk von Marseille von den ubrigen Franzosen dadurch, dass es ein Solidaritatsgefuhl hat, das vom gemeinsamen Existenzkampf herruhrt, denn das Herzblut der Stadt kommt vom Meer, und die Fischer von Marseille gehoren zur Fischerfamilie der ganzen Welt. Sie haben gleicherma?en Anteil an den Sturmen und den ruhigen Tagen, den plotzlichen Katastrophen und den reichen Ernten.

So kam es, dass Jacques Pages Nachbarn sich uber sein Gluck, eine solch unwahrscheinliche Tochter zu haben, freuten. Auch sie erkannten das Wunderbare, dass aus dem Mist der schmutzigen, ordinaren Stadt eine echte Prinzessin hervorgegangen war.

Noelles Eltern kamen gar nicht uber das Wunder der auserlesenen Schonheit ihrer Tochter hinweg. Noelles Mutter war eine plumpe Frau mit groben Zugen, Hangebrusten, dicken Schenkeln und breiten Huften. Noelles Vater war untersetzt, hatte breite Schultern und die kleinen misstrauischen Augen eines Bretonen. Sein Haar hatte die Farbe des nassen Sandes an den Stranden der Normandie. Anfanglich hatte es ihm geschienen, als habe die Natur einen Fehler gemacht, als konnte dieses feine blonde Marchengeschopf nicht wirklich ihm und seiner Frau gehoren, und wenn Noelle alter wurde, musste sie ein gewohnliches, hausbackenes Madchen wie die anderen Tochter seiner Freunde werden. Aber das Wunder wuchs und gedieh weiter, und Noelle wurde jeden Tag schoner.

Noelles Mutter war uber das Auftauchen einer goldhaarigen Schonheit in der Familie weniger uberrascht als ihr Mann. Neun Monate vor Noelles Geburt war Noelles Mutter einem strammen norwegischen Matrosen, frisch auf Landurlaub, begegnet. Er war ein riesiger Wikingergott mit blondem Haar und freundlichem, verfuhrerischem Grinsen. Wahrend Jacques auf Arbeit war, hatte der Matrose eine geschaftige Viertelstunde in ihrem Bett in der kleinen Wohnung verbracht.

Noelles Mutter war vor Angst fast gestorben, als sie sah, wie blond und schon ihr Baby war. Sie lief nur noch in der Furcht herum, ihr Mann wurde mit vorwurfsvollem Finger auf sie zeigen und die Identitat des wahren Vaters wissen wollen. Doch unglaublicherweise lie? ein krankhaftes Geltungsbedurfnis ihn das Kind als das seine akzeptieren.

»Sie muss auf skandinavisches Blut in meiner Familie hinauskommen«, pflegte er gegenuber seinen Freunden zu prahlen, »aber ihr konnt selbst sehen, dass sie meine Gesichtszuge hat.«

Seine Frau horte dann still zu, nickte zustimmend und dachte, was fur Dummkopfe doch die Manner waren.

Noelle war gerne mit ihrem Vater zusammen. Sie liebte seine unbeholfene Munterkeit und die merkwurdigen, interessanten Geruche, die ihm anhafteten, doch gleichzeitig furchtete sie seine Heftigkeit. Mit gro?en Augen sah sie zu, wie er ihre Mutter anbrullte und ihr ins Gesicht schlug und sein Hals vor Zorn schwoll. Ihre Mutter schrie vor Schmerz auf, aber da war etwas uber ihre Schmerzensschreie hinaus, etwas Animalisches und Sexuelles, und Noelle spurte Stiche der Eifersucht und wunschte, sie ware an ihrer Mutter Stelle.

Aber ihr Vater war immer gutig zu Noelle. Er nahm sie gerne mit zu den Docks hinunter und protzte mit ihr vor den rauen, ungehobelten Mannern, mit denen er arbeitete. Sie war dockauf, dockab als die Prinzessin bekannt und war stolz darauf, sowohl ihres Vaters als auch ihretwegen.

Sie wollte ihren Vater erfreuen, und weil er gerne a?, begann Noelle, fur ihn zu kochen, machte ihm seine Lieblingsgerichte und ersetzte allmahlich ihre Mutter in der Kuche.

Mit siebzehn war die Verhei?ung von Noelles fruher Schonheit mehr als erfullt. Sie war zu einer au?erst feinen Frau herangereift. Sie hatte schone zarte Zuge, Augen von strahlendem Veilchenblau, und ihr Haar war seidig und aschblond. Ihre Haut war bluhend und golden, als ware sie in Honig getaucht worden. Ihre Figur war toll, sie hatte uppige, feste junge Bruste, eine schmale Taille, runde Huften und lange, gut geformte Beine mit zarten Knocheln. Ihre Stimme klang deutlich, gedampft und lieblich. Es war eine starke, schwelende Sinnlichkeit um Noelle, aber das war nicht eigentlich ihr Zauber. Ihr Zauber bestand darin, dass unter der Sinnlichkeit eine unberuhrte Insel der Unschuld zu liegen schien, und diese Kombination war unwiderstehlich. Sie konnte nicht die Stra?e hinuntergehen, ohne eindeutige Antrage von Passanten zu bekommen. Es waren nicht die ublichen Angebote, die die Dirnen von Marseille als tagliche Munze bekamen, denn selbst die stumpfsinnigsten Manner sahen etwas Besonderes in Noelle, etwas, was sie noch nie gesehen hatten und vielleicht nie wieder sehen wurden, und jeder war bereit, so viel zu zahlen, wie er sich leisten konnte, um sie einmal, und sei es noch so kurz, zu besitzen.

Auch Noelles Vater war sich ihrer Schonheit bewusst. Tatsachlich dachte Jacques Page an kaum etwas anderes. Er war sich des Interesses, das Noelle bei den Mannern erregte, bewusst. Obgleich weder er noch seine Frau je mit Noelle uber Sex sprachen, hielt er es fur sicher, dass sie ihre Jungfernschaft noch besa?, das kleine Kapital einer Frau. Sein schlauer Bauernverstand gab sich langen und ernsten Uberlegungen hin, wie er aus dem Glucksfall, den die Natur ihm unerwartet in den Scho? gelegt hatte, am besten Nutzen ziehen konnte. Seine Aufgabe bestand darin, dafur zu sorgen, dass die Schonheit seiner Tochter sich fur Noelle und fur ihn so reichlich wie moglich bezahlt machte. Schlie?lich hatte er sie gezeugt, schlie?lich ernahrte er sie, kleidete sie, schickte sie auf eine gute Schule – sie schuldete ihm alles. Und jetzt war die Zeit der Ruckzahlung gekommen. Wenn er sie als die Geliebte eines reichen Mannes etablieren konnte, ware es gut fur sie, und er konnte das geruhsame Leben fuhren, das ihm zustand. Jeden Tag wurde es schwerer fur einen ehrlichen Mann, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Der Schatten des Krieges hatte begonnen, sich uber Europa auszubreiten. Die Nazis waren in einem blitzartigen Gewaltstreich, der Europa den Atem verschlug, in Osterreich einmarschiert. Ein paar Monate spater hatten die Nazis das Sudetenland besetzt und waren dann in die Slowakei einmarschiert. Trotz Hitlers Beteuerungen, er sei an weiteren Eroberungen nicht interessiert, hielt sich die Uberzeugung, dass es einen gro?eren Konflikt geben werde.

Die Wucht der Ereignisse war in Frankreich deutlich zu spuren. Waren wurden knapp in den Geschaften und auf den Markten, als die Regierung sich auf eine massive Verteidigung einzurichten und aufzurusten begann. Bald, furchtete Jacques, wurde man den Fischfang einstellen, und was geschah dann mit ihm? Nein, die Antwort auf dieses Problem bestand darin, fur seine Tochter einen geeigneten Liebhaber zu finden. Leider aber kannte er keine reichen Manner. Alle seine Freunde waren bettelarm wie er, und er hatte nicht die Absicht, einen Mann in ihre Nahe zu lassen, der seinen Preis nicht bezahlen konnte.

Der Ausweg aus Jacques Pages Dilemma wurde unbeabsichtigt von Noelle selbst herbeigefuhrt. In den letzten Monaten war Noelle zunehmend ruheloser geworden. Sie war nach wie vor eine gute Schulerin, aber die Schule begann sie zu langweilen. Sie sagte ihrem Vater, sie mochte sich eine Stelle suchen. Er betrachtete sie schweigend, wog schlau die Moglichkeiten ab.

»Was fur eine Stelle?« fragte er.

»Ich wei? es nicht«, erwiderte Noelle. »Vielleicht konnte ich als Mannequin arbeiten, Papa.« – So einfach war das.

Jeden Nachmittag in der nachsten Woche ging Jacques Page nach der Arbeit nach Hause, badete sorgfaltig, um den Fischgeruch aus seinen Handen und seinem Haar zu kriegen, zog seinen guten Anzug an und ging zur Canebiere hinunter, der Hauptstra?e, die vom alten Hafen der Stadt zu den reicheren Bezirken fuhrte. Er ging die Stra?e auf und ab, sah sich alle Modesalons an, ein schwerfalliger Bauer in einer Welt von Seide und Spitzen, aber

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