Verhalten Ihres Gegenubers machen. Das konnte nervenschwache Menschen nur zusatzlich beunruhigen.

Und Dammerung wird immer sichtbarer. So seien Sie bitte so freundlich: Sie auch vergessen nicht Diese Nachte von Moskau.

Klartext: Au?ergewohnliche Erlebnisse bleiben tief in unserem Unterbewusstsein verankert. Wenn sich zwei Menschen treffen, die zum Beispiel im Knast sa?en oder in der Armee gedient haben, so werden sie sich immer viel zu erzahlen haben, auch wenn diese Ereignisse schon Jahrzehnte zuruckliegen. So ist es auch mit Moskau. Einer, der diese Stadt richtig kennengelernt hat, wird sie nie mehr vergessen.

Der Sinn des Eisfisches  

Nach den Gesetzen der Dramaturgie treffen sich die Protagonisten in einem Theaterstuck immer zwei-, manchmal sogar dreimal. Nicht anders ist es im Leben. Alle funfundzwanzig Jahre treffe ich auf die Schatten meiner Vergangenheit, immer unerwartet und an Orten, zu denen man sonst nie gehen wurde.

Mein Nachbar Andrej wollte zur Eroffnung eines neuen gro?en russischen Lebensmittelladens nach Friedrichhain, und ich kam mit, um ihm Gesellschaft zu leisten. Alles war wie immer: Berge von Sprottenbuchsen, das russische Konfekt Barchen im Norden, Salztomaten in Dreiliteraquarien. Und plotzlich blickten wir in diese gro?en hellen Augen direkt vor uns. Ein Schock. Wir hatten ihn ein Vierteljahrhundert nicht gesehen, trotzdem erkannten wir ihn sofort, seinen gro?en, hasslichen Kopf mit dem riesigen Maul und den vielen krummen scharfen Zahnen darin. Kein Zweifel, es war der Eisfisch. Er lag stapelweise im Eis hinter der Vitrine, und Andrej kaufte sofort drei Kilo.

Der Eisfisch, der in der korrekten deutschen Ubersetzung Krokodileisfisch hei?t, wahrscheinlich wegen seines schrecklichen Aussehens, ist ein sowjetisches Mysterium. Eigentlich durfte es ihn bei uns gar nicht geben, doch jahrzehntelang zahlte dieses Fischkrokodil zu unseren Grundnahrungsmitteln. Es war das mit am haufigsten anzutreffende sozialistische Fischprodukt. Man a? ihn und futterte mit ihm die Katzen. Meine Mutter backte ihn zum Beispiel in einer Senfkruste im Ofen, das Gericht hie? »Eisfisch im Warmmantel« und wurde mit Backkartoffeln serviert. Der Eisfisch ist kein gewohnlicher Fisch, er ist fast durchsichtig, hat nur einen Knochen, riecht nicht nach Fisch, sein Blut ist wei?, da ihm das Hamoglobin fehlt, und er lebt in antarktischen Gewassern weit weg von der Sowjetunion.

Wie kam es, dass ausgerechnet diese seltene Gattung vom anderen Ende der Welt in den Fischladen des Sozialismus jahrzehntelang gefuhrt wurde? Soweit ich wei?, hatten wir am Sudpol keine sozialistischen Bruderlander, die uns aus Solidaritat mit Eisfisch hatten beliefern konnen. Auch Geschaftspartner der Sowjetunion, die einen Warenaustausch in Gang setzen konnten, Panzer oder U-Boote gegen Eisfische zum Beispiel, wurde man da unten vergeblich suchen. Die meisten Eisfische werden von australischen Fischern gefangen, aber mit Australien hatte die Sowjetunion nie etwas am Hut, und umgekehrt zeigte Australien kein Interesse am Sozialismus. Dafur haben sie jetzt ihr Ozonloch. Aber lassen wir die Australier gut sein, wir wollen nicht vom Thema abweichen. Unser einziger Freund nahe am Sudpool war Salvador Allende. Er hatte uns sicher mit Eisfisch beliefern konnen, aber seine Prasidentschaft wahrte nicht lange. Schon nach drei Jahren wurde er von General Pinochet weggeputscht und ermordet. Und von General Pinochet hatte die Sowjetunion keinen Fisch zu erwarten, nicht einmal Graten. Er hasste alle Kommunisten und hatte den Fisch lieber an die Pinguine verfuttert, als ihn an die Sowjetunion zu verkaufen.

Trotz des Putsches in Chile blieb der Eisfisch jedoch in allen Fischregalen Russlands bis zum letzten Atemzug des Sozialismus liegen. Au?er die russische Bevolkerung zu ernahren, ubernahm der Eisfisch eine viel wichtigere Aufgabe. Er vermittelte zwischen beiden Halbkugeln. Durch ihn fuhlten wir uns selbst hinter dem Eisernen Vorhang der Ideologie nicht aus der Weltgemeinschaft ausgeschlossen. Der Sinn des Eisfisches war, uns ein Gefuhl von Weltlaufigkeit zu vermitteln. Jeder denkende Mensch in der Sowjetunion wusste: Eisfisch und Allende, das sind unsere offiziellen Freunde auf der Sudseite des Planeten. Uber den einen hat man in Russland Filme gedreht und Theaterstucke geschrieben und den anderen gebraten.

Im Westen kennen die Leute den Eisfisch kaum, weil er keine marktgerecht Form hat und deswegen sehr selten angeboten wird. Im Kapitalismus werden am liebsten Fische gegessen, die gut auf einen Teller passen wie die Dorade oder ahnliche Fische, die selbst wie ein Teller aussehen. Schollen beispielsweise. Das sind typisch kapitalistisch angepasste Tellerfische. Sie lassen sich leicht servieren, sehen niedlich aus, und kassiert wird pro Fisch und nicht nach Gewicht, was deutliche finanzielle Vorteile mit sich bringt. Diese Fische sind quasi von Natur aus vorportioniert. Im Sozialismus gab es kein vorportioniertes Essen. Unsere Fische passten auf keinen Teller. Sie waren entweder zu gro? und mussten klein gehackt werden, oder sie waren zu klein, sodass man sie sie im Dutzend servierte.

Die Perfektion des westlichen uberproportionierten Mikrowellenessens machte ubrigens meinen Landsleuten noch lange zu schaffen, nachdem das neue kapitalistische Sortiment unsere Laden gefullt hatte. Jedes Essen bestand zu achtzig Prozent aus Verpackung und fuhrte die neu bekehrten Konsumenten oft in die Irre. Sie kauften zum Beispiel haufenweise »Chicken Bags«, spezielle Tutchen mit der Aufschrift »Nach nur zwanzig Minuten im Ofen schneiden Sie den Beutel auf und holen Ihr Huhnchen heraus, so goldbraun und knusprig, wie Sie es noch nie gesehen haben«. Die Menschen schoben die Beutel fur zwanzig Minuten in den Ofen, holten sie heraus, machten sie auf - kein Huhnchen. Sie beschwerten sich bei den Verkaufern und hatten sicher auch irgendwie Recht, denn nirgends in der Gebrauchsanweisung fur diese Chicken Bags stand, dass man zuerst ein Chicken hineinpacken musste, bevor man es in den Ofen schob. Aber drau?en herrschten langst kapitalistische Verhaltnisse, und es hatte keinen Sinn mehr, sich zu beschweren.

In der Sowjetunion gab es kaum Verpackungen, deswegen losten aufwendig verpackte westliche Produkte manchmal Panik aus. Andrej erzahlte mir einmal, wie er Stunden vor seiner ersten Auster sa?, in Erwartung, sie wurde sich irgendwie von allein offnen. Dann suchte er nach dem geheimen Knopf oder einer Stelle, auf die man drucken musste, um die Muschel aufzukriegen.

Sein tatowierter Onkel, ein ehemaliger Knacki und Seemann, der zehn Jahre bei der sowjetischen Fischfangflotte gedient hatte, luftete einmal das Geheimnis des Eisfisches, erzahlte Andrej. Sein Onkel behauptete frech, er selbst hatte in den Siebzigern mehrmals Eisfische am Sudpool gefangen. Damals waren die Fangquoten noch nicht so streng geregelt, auch sowjetische Schiffe durften um den Globus herum fischen, behauptete er.

»Jeder Fisch auf der Welt wird anders gefangen«, erzahlte Andrejs Onkel. »Die Eisfische leben in der Tiefe, nur bei Vollmond kommen sie nahe an die Oberflache, um den Mond zu bewundern. Als Wei?blutler vergottern sie den Mond. Wenn Wolken den Mond bedecken, leuchten die Fischer mit einem runden starken Scheinwerfer vom Boot ins Wasser. Die Eisfische denken, es ware der Mond, schwimmen nach oben und werden mit Fangnetzen gleich zentnerweise eingesammelt.«

Russische Fische wurden nie auf einen solchen Trick reinfallen, aber am Sudpool sei sowieso alles anders als bei uns, meinte Andrej. Alles sei dort umgekehrt. Es sei sehr kalt, obwohl es doch Sudpol hei?e, das Abflusswasser im Waschbecken drehe sich in die falsche Richtung, und wenn eine Mowe mit dem Arsch nach vorne fliegt, hei?t es, gleich wird es windig und sturmisch werden.

Wie Russen Weihnachten feiern 

Вы читаете Meine russischen Nachbarn
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×