Bei uns in der Schonhauser Allee freuen sich die Vietnamesen aus dem Textil-Souvenir-Laden immer besonders auf Weihnachten. Das ganze Jahr uber verstecken sie sich in ihrem Geschaft, sind kaum zu sehen hinter Bergen von Billigpantoffeln, Parfum und kunstlichen Blumen und spielen »Schiffe versenken« oder so etwas. Auf jeden Fall haben sie immer ein Blatt Papier vor sich und einen Kugelschreiber in der Hand. Vielleicht fullen sie auch irgendwelche Antrage aus oder schreiben Briefe an die Verwandtschaft. Kaum ein Kunde storte ihre Ruhe.

Anfang Dezember bekamen sie letztes Jahr eine neue Warenlieferung: christlicher Kitsch made in China - ein leuchtender Jesus fur 9,99 Euro mit Stecker. Wenn man ihn anschloss, strahlte er in allen Farben des Regenbogens. Es gab au?erdem noch ein beleuchtetes Bild vom Abendmahl, auf dem alle in umgekehrter Reihenfolge am Tisch sa?en, und eines von der heiligen Maria mit kleinen Gluhbirnen in den Augen, integriertem Lautsprecher und Akkus. Jetzt konnte man den Textilladen schon von weitem erkennen - er leuchtete und strahlte. Die Vietnamesen hofften auf guten Umsatz. Das Feuerwerk der Weihnachtsbotschaft schien aber die guten Christen eher zu verschrecken. Sie kauften lieber in den herkommlichen Laden Weihnachtsschmuck und Pyramiden, die trotz deutscher Wertarbeit fast alle klemmten und bei dem ersten Reparaturversuch auseinanderfielen.

Wahrend sich in Deutschland die Weihnachtsfeiern zu einem pragmatischen Rabattfest entwickeln, wobei die Bevolkerung am Jahresende alle Regale in den Geschaften leerraumen muss, feiern die Russen noch immer irrational: Die Manner betrinken sich grundlich, und die Frauen uben sich im Wahrsagen. Jedes Jahr werden neue Chiromantie-Rezepte in der Offentlichkeit diskutiert, wobei die Fragen immer die gleichen bleiben: Was erwartet dich im neuen Jahr? Kommt dein dir vom Schicksal Vorbestimmter? Wird er gut aussehen?

»Geh am Heiligen Abend aufs Dach. Schreib auf einen Zettel deine geheimen Wunsche und zunde ihn mit einer Kerze an. Brennt der Zettel ab, wird dein Wunsch erfullt. Geht die Flamme aus, muss du noch ein Jahr auf Erfullung warten.«

Das hort sich zwar wie blanker Unsinn an, ist aber eine Volksweisheit, die auf tausend Jahre alte Erfahrungen zuruckgeht. Die Sitte, am Heiligen Abend wahrzusagen, ist alter als das Christentum. Bevor die Russen christianisiert wurden, feierten sie wie die meisten anderen Volker der nordlichen Halbkugel im Dezember das Sonnenwendfest. Denn auch die Russen hatten fruhzeitig bemerkt, dass die Sonne sich im Winter immer seltener blicken lasst, und oft fur lange Zeit sogar ganz verschwindet. Die Menschen hatten Angst, sie wurde nicht mehr zuruckkommen. Deswegen ubten sie sich im Wahrsagen. Dann aber kehrte die Sonne doch zuruck, und sie ubten sich im Feiern. Sie tanzten und sangen, gingen mit Holzpfahlen von Haus zu Haus, klopften an alle Turen und verkundeten die frohe Botschaft: »Die Sonne ist zuruck!« Jeder musste ihnen dafur Geld, Brot und Schnaps geben. Sich dumm stellen - »Ach wirklich?«, oder »Danke, ich wurde schon unterrichtet« - ging nicht. Die Sitten waren hart. Also war es fur die Manner die beste Losung als Erster mit einem Holzpfahl auf die Stra?e zu gehen.

Die Christianisierung Russlands hat nicht viel an diesen Gebrauchen geandert. In landlichen Gegenden ziehen die Bewohner auch heute noch von Haus zu Haus, klopfen an alle Turen, rufen: »Kommt raus, Jesus wurde geboren!« Die Nachbarn kommen ihnen entgegen, um auf des Heilands Wohl zu trinken, dann ziehen die Manner zusammen weiter. Die Madchen bleiben beim Wahrsagen.

»Stell ein Wasserglas, einen Spiegel und eine Kerze auf den Tisch. Schau durch das Wasser auf die Kerze in den Spiegel. Nach einer Stunde wirst du einen Ring erblicken. Ist es ein Ring aus Kupfer, kommst du in eine arme Familie. Ein Silberring bedeutet: ein guter Kerl. Ein Ring mit Stein: Du wirst einen wohlhabenden Mann treffen. Siehst du aber einen Goldring, heiratest du einen Manager.«

1918 stieg Russland zusammen mit dem Rest der Welt auf einen neuen fortschrittlichen Kalender um, weil die Wissenschaftler herausgefunden hatten, dass ein Jahr langer als 365 Tage dauert. Die russische orthodoxe Kirche weigerte sich jedoch, diesen neuen Kalender anzuerkennen. Seitdem gibt es in Russland alle religiosen Feiertage doppelt. Den Russen ist es nur recht. Am 31. Dezember wird das Neujahrfest nach dem neuen Kalender gefeiert, am 6. Januar Weihnachten nach dem alten Kalender und am 13. Januar das Neujahrsfest auch nach dem alten Kalender. Fruher, im Sozialismus, wurden die Leute in den kurzen Pausen zwischen den Feiertagen gezwungen, zur Arbeit zu gehen. Vor einiger Zeit hat das russische Parlament endlich mit dieser unmenschlichen Praxis Schluss gemacht. Es wurde ein neues Gesetz bezuglich der sogenannten »Weihnachtsferien« verabschiedet. Danach werden alle Burger fur die zwei ersten Januarwochen von der Arbeit freigestellt. Vielleicht gestalten sich die Vorbereitungen auf die Winterfeste deswegen seither besonders uppig. Moskauer Zeitungen berichten, dass sich ganze Armeen von Weihnachtsmannern zum Angriff auf die Stadt vorbereiten und fast in jedem Bezirk Schlittenrennen angekundigt sind.

Wir feiern in Berlin gemischt, russisch-deutsch, zusammen mit unseren Nachbarn, einer kaputten Pyramide vom letzten Jahr und dem vietnamesischen Leucht-Jesus. Dabei verfallen wir alle kurz vor Weihnachten in einen Wahrsage- und Aberglaubenwahn ungeahnten Ausma?es.

Denn Wahrsagen beruhigt. In einer russischen Zeitung habe ich einmal eine unkonventionelle Wahrsagemethode entdeckt, die wir bei Gelegenheit unbedingt ausprobieren mussen. Sie hei?t »Frag die Katze« und ist nicht besonders aufwendig:

»Am Heiligen Abend rufen Sie Ihre Katze. Wenn sie die Schwelle des Zimmers mit der linken Pfote betritt, werden all Ihre Wunsche in Erfullung gehen, wenn sie aber mit der rechten zuerst eintritt, dann...«

Wir bereiten das jetzt schon vor und dressieren die Katze. Wenn sie es am 24. Dezember nicht schafft, dann kann sie es am 6. Januar noch einmal versuchen. Im Moment sitzt sie gerade auf der Schwelle zwischen den Zimmern. Ihre Pfoten sind nicht zu sehen, sie sitzt nur da wie eine Fellkugel und schnurrt leise vor sich hin.

Karl Marx und seine Leser

Mein Freund Sergej hat eine neue Lieblingsbeschaftigung fur sich entdeckt. Er kauft alte Bucher bei eBay, signiert sie und lasst sie wieder versteigern. Auf meine Frage, was es Neues gabe, zeigte er mir stolz drei neu erworbene Bande auf seinem Tisch: Das Kapital von Karl Marx, die Ausgabe von 1881. Auf dem ersten Blatt der Trilogie stand in Handschrift: »Viel Spa? beim Lesen, mein Mauschen. Dein Marx.«

»Ein einmaliger Fang!«, meinte Sergej. »Die einzige signierte Marx-Ausgabe!«

Karl Marx personlich hat nach Sergejs Uberzeugung diese Erstausgabe seiner lieben Frau geschenkt, nachdem sie ihn gefragt hatte, was er denn da die ganze Zeit in der Bibliothek getrieben habe. Ich musste sehr daruber lachen, vor allem wegen der kindlichen Handschrift

»Das wird dir kein Mensch abkaufen, man sieht doch, dass du es selbst gerade eben...«

»Stimmt nicht!«, entgegnete mein Freund. »Die anderen Bucher - ja, vielleicht, manchmal, aber dieses eine Mal ist alles echt. Au?erdem will ich das Buch gar nicht verkaufen. Ich wollte schon immer wissen, was sich hinter diesem Titel verbirgt. Fruher in der Sowjetunion hatten wir keine Zeit, uns mit Marx zu beschaftigen. Du erinnerst dich doch an die 24-bandige Ausgabe?«, fragte er.

»Nein, gar nicht«, schuttelte ich den Kopf. Ich erinnerte mich nur an die erste sowjetische Fernsehserie, die punktlich zum hundertsten Todestag des Fuhrers des Weltproletariats ausgestrahlt wurde. Sie hei?t Karl Marx: Die Jugendjahre, Reife. Seine jungen Jahre wirkten unpolitisch, eine Art »Gute Zeiten - Schlechte Zeiten« nur mit Marx in der Hauptrolle. Die Reife war langweilig. Die 24-bandige sowjetische Ausgabe von Marx ist an mir ganzlich vorbeigegangen. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich damals noch nicht geraucht habe. Denn politische Literatur hat der sowjetische Staat immer sehr gunstig an die Bevolkerung abgegeben, oft sogar pflichtverschenkt. Die Bucher waren immer auf gutem dunnem Papier gedruckt, das Zigarettenpapier sehr ahnlich war. Daher vermute ich, dass Marx in Russland mehr inhaliert als gelesen wurde.

In den Landern des Ostblocks fanden seine Bucher unterschiedliche, oft sehr unkonventionelle Verwendung. In Bulgarien, das wei? ich aus zuverlassigen Quellen, musste der Staatsverlag Das Kapital jedes Jahr in standig wachsender Auflage nachdrucken. Anfangs freuten sich die Parteifunktionare uber diese rasche Verbreitung des Marxismus unter den bulgarischen Massen. Nach einigen Jahren wurde der Staat jedoch misstrauisch und stellte eine Untersuchung an. Die steigende Nachfrage des Werks

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