Andrej hat anscheinend einen Weg in eine erfullte Zweisamkeit gefunden. Er will sich nun einen gro?en Hund anschaffen und mit ihm eine Mensch-Tier-Gemeinschaft grunden. Ich bezeichnete sein Vorhaben als die beruhmte »Berliner Losung«: Jeder zweite wohnt in unserer Gegend mit einem gro?en Hund zusammen, der ihm die Eltern, die Kinder und die Frau gleicherma?en ersetzt. Der Hund ist eine preiswerte Familienalternative. In unserer Heimat waren die Hunde ein Luxus. Es waren uberwiegend exotische Tiere, die genau wie ein Auto, ein Pelzmantel oder eine auslandische Mobelgarnitur etwas uber den Wohlstand der Familie verrieten. Nicht jeder konnte sich einen so teuren Spa? erlauben. Aber wenn, dann musste es schon ein ganz besonderer Hund sein.

Meine Moskauer Nachbarn aus dem ersten Stock gehorten zu diesen Leuten, die sich fur etwas Besonderes hielten. Beide waren Biochemiker, und man munkelte, sie hatten etwas Wichtiges erfunden. Ihr Sohn spielte nicht mit den anderen Jungs auf dem Hof und ging nicht wie alle anderen in die Schule N 701, sondern in ein englisches Internat am anderen Ende der Stadt, wo er unter anderem Schach spielen lernte. Diese Kleinfamilie also kaufte sich 1981 auf dem Schwarzmarkt ein rotes Malteserhundchen, um sich damit von den anderen Hausbewohnern noch deutlicher abzuheben. Als Baby war der Malteser sehr hubsch, und gar nicht rot, sondern nur ein wenig rosig. Er wuchs aber sehr schnell und ungleichma?ig. Nach sechs Monaten hatte er einen Riesenkopf und einen Riesenbauch, aber seine Fu?e blieben kurz. Er wurde immer dunkler, nur sein Schwanz spielte ins Hellrote.

Eine solche Hundeentwicklung fuhrte dazu, dass der Malteser sich nicht mehr richtig bewegen konnte. Wenn er zum Beispiel die Treppe hinuntermusste, schlug er mit dem Maul auf jeder Stufe auf. Zuruck in die Wohnung hinauf kroch er wie eine Schlange. Seine Besitzer mussten ihn standig hin und her tragen und wurden deswegen von den anderen Hausbewohnern belachelt. Der rote Malteser verschwand eines Tages aus unserem Haus genauso plotzlich, wie er aufgetaucht war. Man nahm an, dass die beiden Wissenschaftler ihn fur ihre wissenschaftlichen Zwecke missbraucht hatten.

Auf sowjetischen Leinwanden wurden Hunde zuerst als wirksame Waffe im Kampf gegen die Kriminalitat und zum Schutz unserer Staatsgrenze dargestellt. In Dutzenden von Filmen wie Stille Nacht am Amur oder Bei Fu?, Muchtar spielten ubergro?e, speziell ausgebildete Deutsche Schaferhunde die Hauptrolle. Sie sa?en wochenlang ohne Verpflegung in einem Versteck und ernahrten sich ausschlie?lich von Grenzverletzern, hauptsachlich Japanern, die sie selbst aus gro?er Entfernung aufspuren und von denen sie nie genug bekommen konnten. Manche Hunde liefen sogar ohne Befehl und auf eigene Gefahr zum Fruhstuck auf feindliches Territorium, um sich einen Gegner zu schnappen. Ich glaube, dass die japanischen Godzilla-Filme damals in einer Uberreaktion auf diese Zwischenfalle entstanden sind.

Spater kamen die sogenannten Hundeheuler auf die Leinwand: allerlei tragische Geschichten daruber, wie ein Hund von seinem Besitzer verraten wurde, ihm aber trotzdem treu blieb. Eine solche Filmvorfuhrung musste ich einmal als Zwolfjahriger in Tranen aufgelost fruhzeitig verlassen, weil ich es nicht mehr mit ansehen konnte, wie der blode Hund den ganzen Film uber an einer Bushaltestelle sa? und auf seinen Besitzer wartete, der schon gleich am Anfang des Films gestorben war. Ich wunschte mir heimlich, dass auch der Hund von dem Bus uberfahren werden wurde oder der Busfahrer ihn mit zu sich nach Hause nahme oder wenigstens die unangenehme Frau, die die Fahrkarten kontrollierte. Es war aber ein Hundeheuler ohne Happyend. So etwas Unmenschliches war nur im Sozialismus moglich. Der Film hie? Der wei?e Bim mit dem schwarzen Ohr. Ich werde ihn nie vergessen.

Hier in Berlin, wo jeder Turke mindestens zwei Kinder und jeder Deutsche zwei Hunde hat, sind diese Tiere zu vollwertigen mundigen Burgern geworden. Sie gehen selbst spazieren oder einkaufen, schei?en uberallhin, und ihre Wurde ist unantastbar. Hier wurde kein Hund ein halbes Leben an der Bushaltestelle verbringen. Wenn sein Besitzer verschwunden ware, wurde der Hund einfach Vermisstenanzeige erstatten. Die meisten Hunde auf der Schonhauser Allee kenne ich seit Jahren, wir sind alte Bekannte. Von meinen Kindern werden sie gar nicht mehr als Tiere wahrgenommen, sondern als eine Art ehrenamtliche Mitarbeiter der Berliner Stadtreinigung, die unsere Stra?en im Winter gegen Glatteis schutzen. Deswegen sagt mein Sohn auf dem Weg zur Schule immer, wenn er einen besonders gro?en Hundeschei?haufen sieht: »Gut gemacht, Spiderman.« So hei?t eine graue Promenadenmischung mit rotem Halstuch, die unsere Hausfassade besonders grazios bepinkelt.

So einen Spiderman wollte sich Andrej besorgen. Doch das Drehbuch seines Lebens wollte es anders. Statt einem gro?en Hund zu einem glucklichen Zuhause zu verhelfen, rettete Andrej unerwartet einen Flusskrebs. Und das kam so: Er fuhr nach Friedrichsfelde, um dort einen gerade eroffneten russischen Supermarkt zu besuchen. Die Russen hatten sich dort sehr gro?zugig eingerichtet. Sie hatte sogar ein Aquarium aufgestellt mit zwei lebendigen Storen darin - einem kleinen und einem gro?en. Der gro?e war Andrej zu gro?, aber den kleinen hatte er gern gebraten. Nein, meinte die Verkauferin, der sei leider schon von einem Ehepaar vorbestellt worden, die Glucklichen wurden jede Minute aufkreuzen. Andrej beschloss zu warten, denn vielleicht kamen die beiden ja nicht oder lie?en sich uberreden, den Fisch mit ihm zu teilen.

Sie kamen: ein alteres deutsches Ehepaar mit gro?em rundem Aquarium im Gepack. Der kleine Stor, der gar nicht so klein war und locker viereinhalb Kilo auf die Waage brachte, wanderte in das runde Ding.

»Soll ich Ihnen ein wenig Eis hineintun?«, fragte die Verkauferin fursorglich.

»Wollen Sie ihn nicht mit mir teilen?«, fragte Andrej fur alle Falle.

Die Frau erschrak. »Das kommt gar nicht in Frage!«, antwortete sie aufgeregt.

»Um diesen Fisch richtig zuzubereiten, braucht es ein wenig kulinarisches Knowhow. Ich kann Ihnen ein paar gute Rezepte verraten«, trumpfte Andrej auf. »Was wollen Sie denn machen?«

»Wir wollen gar nichts mit ihm machen«, erwiderte die Frau. »Wir lassen ihn frei!«

Andrej erschrak. »Wie denn - in der Badewanne?«

»Wieso denn in der Badewanne? Wir haben einen kleinen Teich im Garten, dort wird er leben.«

»Bei den Temperaturen wird er in Ihrem Teich keine funf Minuten uberleben!«, log mein Nachbar. Die Frau zeigte sich jedoch gut vorbereitet:

»Stimmt nicht«, sagte sie. »Store kommen aus Sibirien, sie konnen noch viel niedrigere Temperaturen aushalten.«

Ihr Mann schwieg die ganze Zeit und zahlte sein Geld.

»Na, Dietmar, mindestens ein Leben haben wir jetzt gerettet. Lass uns den gro?en auch noch mitnehmen!«, meinte die Frau zu ihrem Mann.

»Nein, Liebling, das geht nicht. Das konnen wir uns nicht leisten. Au?erdem passt er nicht ins Aquarium.

»Lassen Sie uns den gro?en doch teilen!«, mischte Andrej sich ein.

Die beiden kuckten ihn an wie einen Kannibalen und verlie?en den neuen russischen Supermarkt. Er blieb allein an der Fischtheke zuruck und fuhlte sich unwohl. Plotzlich hatte er ein schlechtes Gewissen, ohne etwas Unrechtes getan zu haben. Er musste dringend etwas Gutes tun.

»Haben Sie noch irgendwas zu retten?«, fragte Andrej die Fischverkauferin.

Ja, das hatte sie! Und so rettete er den letzten Krebs, der mit zusammengebundenen Scheren verschuchtert in der Ecke des Aquariums hockte. Dieser Flusskrebs erwies sich als au?erordentlich intelligent. Andrej nannte ihn Pawlow zu Ehren des beruhmten Wissenschaftlers. Pawlow isst am liebsten Leberwurst und sitzt gerne im Dunkeln. Wenn es ihm in der Duschwanne zu langweilig wird, setzt er sich auch schon mal auf den Rand und sieht Andrej bei der Morgentoilette zu. Der Hund wurde vergessen, der Flusskrebs ist nun Andrejs bester Freund. Im Sommer fahren sie zusammen an den Muggelsee zum Tauchen.

Wer wird Milliardar?

Meine russischen Nachbarn interessieren sich sehr dafur, wie man in Deutschland superreich wird. Wenn man der hiesigen Forbes-Liste glauben darf, ist es in jedem Land ein anderer Weg, der

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