Ein solcher Versicherungswahn hat Geschichte. Als ich, damals ein frischgebackener Fluchtling, vor funfzehn Jahren nach einer langen abenteuerlichen Reise in einem Berliner Auslanderheim landete, besuchten uns als Erstes nicht die Zeugen Jehovas, sondern Versicherungsvertreter. Sie erklarten uns in leicht verstandlicher Fingersprache, was wir als Erstes brauchten, um in Deutschland bleiben zu konnen. Dieses kindische Streben nach einer Vollkaskoabsicherung furs Leben ist menschlich durchaus verstandlich, verhindert aber die Bevolkerungsentwicklung. Denn jede Entwicklung kann in einem rundum abgesicherten Leben nur Verschlechterung bedeuten. Das Kinderkriegen ist ein Zusatzrisiko, und das Sterben macht eine Entgegennahme der Versicherungspramie unmoglich. Deswegen sterben die Burger in einer uberversicherten Gesellschaft au?erst ungern, mit gro?er Verzogerung oder gar nicht. Und wenn sie doch sterben, dann verwesen sie nicht.

Dieses Phanomen haben wir den gro?en Supermarktketten zu verdanken. Diese fingen vor drei?ig Jahren an, immer gro?ere Verkaufsflachen zu nutzen, um mehr und preiswerter verkaufen zu konnen. Um sich vor dem Verfall ihrer Produkte abzusichern, setzten sie auf Lebensmittel mit einem hohen Anteil an Konservierungsstoffen. Letztere hatten keine direkte schadliche Wirkung auf den Organismus der Verbraucher, lie?en sich dort aber nieder und mumifizierten die Bevolkerung in einem Jahrzehnte wahrenden Prozess. Das Ergebnis ist, dass Burger, die bereits seit zehn oder mehr Jahren tot sind, noch immer so frisch aussehen wie die Tomaten im Supermarkt oder Lenin in seinem Mausoleum. Ihre Versicherungspramie bekommen sie trotzdem nicht.

»Die Burger wollen Klarheit und Sicherheit!«, hort man hier standig von den Rednerbuhnen. Damit unterstutzen die Politiker den Pragmatismus der Bevolkerung. Die Burger reagieren darauf, indem sie ihre eigene Existenz als eine Art Rechnung begreifen, die dem Staat zu stellen ist. Auf ihr ist links die erbrachte Leistung eingetragen, rechts der dafur zu erwartende Betrag mit ausgewiesener MwSt., Sonntagszuschlag und Pendlerpauschale. Wenn man lange genug hinund hergependelt ist, will man die Kasse klingeln horen. Doch die Kasse schweigt, die Zukunft bleibt ungewiss, unabhangig vom Willen der Burger. Das macht die Gemuter unfroh.

Neulich fand ich eine Bestatigung dieser These in einem Museum in Suddeutschland. Die Ausstellung hie? Dokumente. Ich mochte ausdrucklich betonen: Ich erfinde nichts, ich war tatsachlich da. »Die Rechnung - das alteste Kulturgut der menschlichen Geschichte« stand im Prospekt. Ausgestellt waren Holzrechnungen aus dem Teutoburger Wald, die unglaublich kompliziert aussahen. Mich hat diese Ausstellung zum Lachen gebracht. Denn bei allem Respekt vor Pragmatismus - freie Sexualitat und Freiheit uberhaupt sind mit einer Hausratversicherung nicht zu vereinbaren. Das Leben bleibt immer ein Risiko, die Rechnung geht nie auf.

Die Qual der Wahl

Vor einiger Zeit standen in Berlin mal wieder Wahlen an. Meine russischen Nachbarn juckte das in keiner Weise: Sie hatten keine deutsche Staatsangehorigkeit. Die Fischkopfe auf den Wahlplakaten, die regelma?ig an den Kastanienbaumen unseres Bezirks aufgehangt wurden, lachelten nicht ihnen zu. Ich war der einzige Russe im Haus, der wahlen durfte - abgesehen von meiner Frau, die sich aber fur Politik nicht interessiert. Und ich war verzweifelt, denn ich wusste nicht, wen ich wahlen sollte und wie. Als Wahler war ich namlich Jungfrau. Ich hatte noch nie im Leben gewahlt. In der Sowjetunion waren meine Eltern jedes Jahr wahlen gegangen und zwar immer um 6.30 Uhr morgens. Politisch gesehen war das sinnlos, es gab namlich nur einen Kandidaten. Dafur aber konnte man in den Wahllokalen Sprotten, Wurst und Apfelsinen, zu lacherlichen Preisen erwerben. In der Regel waren diese begehrten Lebensmittel schon vormittags vergriffen, und nach zwolf Uhr standen die Wahllokale leer. Die Staatslenker hatten auf diese Weise alle Stimmen bis Mittag bereits gezahlt und die Wahl wie immer gewonnen. Ich boykottierte diesen Schwachsinn, au?erdem schmeckten mir die lettischen Sprotten nicht.

Spater in Deutschland durfte ich lange Zeit gar nicht wahlen. Funfzehn Jahre lang besa? ich einen von der deutschen Auslanderbehorde ausgestellten »Alienpass«. Ich war staatenlos - nichts ging mich an. Seit einer Weile bin ich deutscher Staatsburger, und verlor schlie?lich in der Grundschule Nummer 11, im Klassenzimmer meines Sohnes mit 38 Jahren meine Wahler-Jungfraulichkeit. Auch meine Frau, meine Mutter und meine Tante, die in Kreuzberg wohnte, haben dort zum ersten Mal gewahlt. Ich war froh, als es vorbei war. Ich hatte den Wahlkampf von Anfang an als Bedrohung aufgefasst. Ein massiver Angriff der politischen Elite auf die Bevolkerung. Zuerst bekam der Osten einen Tritt in den Hintern, zusammen mit der Erkenntnis, dass er moglicherweise an den falschen Stellen saniert wurde. Der Norden haute auf den Suden ein und umgekehrt.

Nun gut, die Menschen mogen sich tatsachlich in ihrer Mentalitat unterscheiden. Ein Bekannter, der lange Zeit als Reiseleiter fur deutsche Touristengruppen in Agypten gearbeitet hat, erzahlte, wie unterschiedlich sich die Deutschen im Ausland benehmen: Jedes Mal wenn er mit Bayern oder Schwaben unterwegs war, machten sie schon am zweiten Tag jede Menge Verbesserungsvorschlage fur Kairo. Sie entwickelten sofort Plane, wie man dort zusatzliche Pyramiden errichten und alles sauber machen sowie des Verkehrschaos Herr werden konnte. Ein Jahr an Bayern angeschlossen und Agypten ware wahrscheinlich nicht wiederzuerkennen. Die Norddeutschen hatten dagegen schon nach zwei Tagen keine Lust mehr auf Reformgequatsche. Sie verlie?en das Hotel nur noch, wenn dringender Bedarf bestand und nahmen ansonsten Agypten mit all seinen landestypischen Macken so wie es war. Die Ostdeutschen haben es heute schwer, nach vierzig Jahren sozialistischer Diktatur Eigeninitiative zu entwickeln. So etwas wurde fruher vom Staat als strafbar eingestuft, und die Westdeutschen haben Angst vor der volligen Verarmung.

Politiker saen nur noch mehr Zwietracht zwischen den Menschen, statt sie einander naherzubringen. In ihren Reden bekampfen sie die Arbeitslosigkeit und wettern gegen Fremdarbeiter, die den Deutschen ihre Arbeitsplatze rauben. Dabei mussen sie selbst keine Angst vor Fremdarbeitern haben, sie halten sich fur unersetzbar. So bleibt die Politik in Deutschland nach wie vor der einzige Bereich, der gegen die Globalisierung immun ist. Wie schon ware es, wenn man den Regierungsauftrag fur Deutschland in der internationalen Fachpresse ausschreiben konnte:

»Mitteleuropaisches Land sucht fitte Profis (keine Klatsch-Luschen!) zum Regieren. Alter und Geschlecht spielen keine Rolle. Bitte schicken Sie Ihre Bewerbungsunterlagen an: Bundestag, Berlin, Germany.«

Die Bewerbungsgesprache konnten die volksnahen Fernsehmoderatoren Christiansen, Raab, Schmidt und Maischberger ubernehmen. Sie sollten aber streng nach den ublichen Regeln ablaufen.

»Was haben Sie fruher regiert? Wie sind Ihre Gehaltsvorstellungen, und wo sehen Sie sich in funf Jahren?«

»Ich war zwei Legislaturperioden als Verteidigungsminister in Sudamerika tatig und leitete die Gro?e Koalition auf Madagaskar. Nun mochte ich mich der Herausforderung stellen, in einem industriellen Land die Finanzpolitik zu ubernehmen.«

Das Volk wird das notige Geld zusammenlegen und den einen oder anderen einstellen. Bestimmt wird sich ein so gekaufter Bundeskanzler viel mehr Muhe geben als ein herkommlicher. Es konnen auch zehn Vietnamesen oder funf Polen sein, die den Job zusammen erledigen, preiswert und effizient. Niemand wird sich ihre Namen merken konnen, die Politik wird aus dem Fernsehen zuruck in die Amtsstuben kehren.

Noch besser ware die Mehrstaatlichkeit in Deutschland. Das ist meine personliche politische Vision. Sie wurde bedeuten, dass alle Kandidaten ihren eigenen Staat auf dem freiem Markt anbieten, wie es zum Beispiel die Telefongesellschaften mit ihren DSL-Angeboten langst machen. Auch Politiker wurden ihre Kunden in harter Konkurrenz erkampfen mussen. Und wenn sie klug genug sind, werden sie ihren Staaten nicht solche uninspirierten Kurzel wie »BRD« oder »DDR« geben, sondern hubsche Frauennamen. Dann wird man auf Wahlkampfplakaten lesen konnen: »Der Staat Alice mit Schwerpunkt Okologie, Bildung und Kultur! Dafur ohne Grenzschutz und ohne Armee, fur nur 4,99 Euro im Monat!«

Ich warte auf den Staat Alice. Ich glaube fest, dass er kommt.

 Hunde

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