klarte sich bald auf. Das Kapital wurde in Bulgarien in einem wertvollen Lederumschlag herausgegeben. Die begeisterten Leser enthauteten die Bande und nahten aus dem Umschlag Handschuhe und Frauentaschen.

Solche Pannen waren in Bulgarien keine Seltenheit. Zur gleichen Zeit, als die meisten Bulgaren in Lederhandschuhen herumliefen, bestellte eine japanische Firma eine gro?e Ladung bulgarischer Radioempfanger, die mit veralteter Technologie produziert wurden und mit japanischen Geraten nicht zu vergleichen waren. »Von Marx lernen, hei?t den Kapitalisten misstrauen«, dachten sich die bulgarischen Genossen und schickten erst einmal eine kleinere Ladung. Ihre schlimmsten Befurchtungen wurden bestatigt: Die pfiffigen Japaner hatten es auf die Holzummantelung abgesehen. Die bulgarische Elektronik im Inneren schmissen sie skrupellos weg, und aus den Kasten bauten sie wertvolle Truhen und Nachttischchen.

Die Ungarn waren da schon kluger. Sie produzierten Das Kapital gleich als Horbuch auf sechs Kassetten. Auf diesen las ein Schauspieler mit erotischer Stimme den gesamten Text vor. Man munkelte, er hatte dafur die hochste Auszeichnung, »Held der Arbeit«, bekommen und sei spater verruckt geworden. Besonders popular waren diese Kassetten bei den sowjetischen Touristen, weil sie so billig waren. Sie uberspielten Das Kapital mit Musik aus dem kapitalistischen Lager.

Ein wahrlich tragisches Schicksal hatte das Werk von Karl Marx in der Mongolei. Im Auftrag der mongolischen Regierung ubersetzte ein Wissenschaftler das Buch nicht weniger als zwanzig Jahre lang in seine Heimatsprache. Es war eine hollisch komplizierte Arbeit, weil die meisten Begriffe aus Marx’ Vokabular in der mongolischen Sprache gar nicht existierten. Nicht einmal solch relativ einfache Worte wie »Arbeiter« oder »Bauer« waren vorhanden. Also musste der Wissenschaftler eine neue marxistisch orientierte mongolische Sprache erfinden, die jedem einfachen Viehzuchter den Einstieg in die Politokonomie ermoglichte. Aus dem »Bauer« wurde der »Erdmelker«, aus dem Arbeiter der »Maschinenhirt«. Der Wissenschaftler erhoffte sich durch diese aufwendige Arbeit gro?e Ehren, mindestens aber ein Denkmal zu Lebzeiten und eine gro?zugige Fruhrente. Doch als er mit dem Werk fertig war, kippte der Sozialismus, und die Nachfrage fur marxistische Literatur ging in den Keller. Der Ubersetzer sah sein Lebenswerk zerstort, ihn plagten gro?e finanzielle Probleme und eine tiefe Depression. Als vielleicht einziger Mongole, der den ganzen Marx auf mongolisch verdaut hatte, wusste er zu gut uber die kommende Zeit Bescheid. Der Wissenschaftler dachte uber Selbstmord nach. Die Geschichte nahm aber ein gutes Ende: Der mazenatische Kapitalist George Soros sprang fur die mongolische Kapital-Ubersetzung ein und veroffentlichte sie in einer volksnahen Ausgabe - auf sehr dunnem Papier und in einem feinen Ledereinband.

 Ein Toast auf Joyce

»Komm, lass es uns noch ein letztes Mal probieren! Ich habe eine ganz tolle Idee, diesmal wird es klappen.«

Mein Nachbar Andrej, sonst eigentlich ein ruhiger und zuruckhaltender Mensch, liebt es, sich selbst hohe Ziele zu setzen und andere in seine hoffnungslosen Projekte mit hineinzuziehen. Aber nur, wenn sie ihm widersprechen - dann plotzlich wird er hyperaktiv bis zur Unertraglichkeit. Sein neuestes Projekt hie?, den Ulysses von James Joyce durchzulesen. Unser gemeinsamer letzter Versuch lag genau ein Jahr zuruck - ein kleines Jubilaum. Damals scheiterten wir ruhmlos bereits am ersten Drittel des Buches, obwohl Andrej tolle Ideen zur Bezwingung des Textes hatte.

»Das Problem liegt darin«, sinnierte er, »dass man uber den Anfang nicht hinauskommt.«

Sein ganz personliches Einknicken lag auf Seite 71, meines in der Nahe. Also schlug er vor, das Buch von beiden Enden gleichzeitig zu lesen, vom Anfang und vom Ende.

»Das erlaubt dem Leser, mit Spannung zu verfolgen, wie zwei langweilige Geschichten sich genau in der Mitte des Buches treffen«, meinte er.

Um seine These zu beweisen, stellte Andrej komplizierte logische Paradoxa auf: »Langeweile erzeugt Spannung« behauptete er beispielsweise oder: »Zwei Parallelen kreuzen sich im Unendlichen.« Das horte sich klug an, hat uns aber im Endeffekt nichts genutzt. Auf mich ubte dieser Text eine hypnotische Wirkung aus. Er rief Assoziationen hervor, die nichts mit dem Buch zu tun hatten. Meine Gedanken schweiften ab. »Ein interessanter Mensch«, dachte ich uber den Autor. Auf dem Photo im Buch, erinnerte mich Joyce mit seinen runden Brillenglasern und dem hinterhaltigen Lacheln an einen verruckten Professor aus meiner Studienzeit, Arkadij Schnur, der fur das Fach Allgemeine Physik zustandig war und unverstandliche Vorlesungen hielt, die aber sehr beliebt waren.

Professor Schnur verachtete die Allgemeine Physik, er war deutlich von diesem Fach unterfordert. Uns war bald klar, dass Professor Schnur ein Genie war, Trager einer hoheren Wahrheit, die sich uns niemals erschlie?en wurde. Genau das faszinierte uns an seinen Vorlesungen. Vor Beginn sa? er neben der Tafel und lachelte jeden, der hereinkam, hamisch an. Dazu machte er als etwas seltsame Begru?ungsgeste eine herablassende Handbewegung, mit der er uns sagen wollte: »Ach, du auch? Vergiss es, keine Chance!« Schnur trug einen schwarzen Anzug, der deutlich alter war als die Gro?e Oktoberrevolution, seine Brille war mit Klebeband zusammengehalten, und seine Frisur lie? vermuten, dass er am Abend mit dem Kopf am Ventilator eingeschlafen war. Dazu kamen eine standig offene Hose und ein Jackett mit gro?en Lochern unter den Achseln, wobei die eine Seite mit wei?en Faden zugenaht war.

Schnur fing stets ruhig an. Er sagte: »Guten Tag« und »heute also«, doch schon nach einer Minute sprang er mit der Kreide in der Hand im Horsaal hin und her und schleuderte Satze durch die Luft, die uns in eine Art Trancezustand versetzten. Die mit der einen Hand an die Tafel geschriebenen Formeln wischte er mit der anderen sofort wieder ab, sodass niemand von uns eine Chance hatte, sich diese Signale aus der fremden Welt der Physik zu notieren. Mit der Abwischhand kratzte er sich auch die Nase, fuhr sich in die Haare und durchs Gesicht und verwandelte sich dabei in einen wei?en Clown, der standig von einer Kreidewolke umhullt war. Au?erdem hatte Schnur die Angewohnheit, wahrend der Vorlesung an seiner Hose zu ziehen. Mal zog er sie hoch bis unter die Arme, mal kuckte sein halber Hintern hervor, wenn er sich umdrehte. »Zeit ist Jetzt!«, rief er dabei und »Raum ist Masse!« Wie hypnotisiert starrten wir auf den Professor: eine Ansammlung von Analphabeten, die sich anstrengten, einen Zipfel der Weisheit zu erhaschen. Manchmal lachte er laut, woraus wir messerscharf schlossen, dass er gerade einen Witz gemacht hatte.

»Wie ihr seht, ist es im Grunde sehr einfach«, sagte er immer zum Schluss wie zum Hohn.

Nach anderthalb Stunden war die Show vorbei. Der wei?e Clown verlie? blitzartig den Saal, wir blieben wie versteinert sitzen. Die Streber aus der ersten Reihe schauten einander verwirrt an: Was hat er blo? erzahlt?

»Das Was spielt keine Rolle«, reagierte die hintere Bank, »aber wie er es gemacht hat! Das war einfach geil!«

Seitdem sind zwanzig Jahre vergangen. Ich habe noch immer keinen blassen Schimmer von Allgemeiner Physik, aber gro?en Respekt vor ihr. Ich wei?, dass sie kein Hirngespinst ist. Nein, sie existiert wirklich, diese wunderbare in sich abgeschlossene Welt, zu der es fur mich keinen Zugang gibt.

So ahnlich geht es mir auch mit dem Roman von Joyce: Die Welt von Bloom existiert tatsachlich und ist alles andere als langweilig, sie zeigt sich nur nicht jedem. Die neue Idee meines Nachbarn zur Erstbesteigung des Ulysses hie? diesmal: »Kollektives lautes Lesen«.

»Ich habe noch zwei Freiwillige gefunden, die bereit waren mitzumachen«, erzahlte er. »Und ich habe alles schon durchgerechnet: zehn Sitzungen zu je zwei Stunden, mit Cognac und Zigarren zur Entspannung. Wenn einer merkt, dass die Aufmerksamkeit nachlasst, muss ein anderer ubernehmen«, erklarte Andrej mir.

Ich verzichtete. Es war mir zu kunstlich. Das Buch hat jedoch einen Ehrenplatz in meinem Bucherregal, immer in Sichtweite. Ich mochte mir die Ulysses-Option offenhalten. Nicht auszuschlie?en, dass ich es irgendwann einmal ganz plotzlich, quasi uber Nacht, schaffe und alles Joyce’sche auf einmal begreife. Denn Zeit ist Jetzt, Raum ist Masse, und darauf trinken wir einen.

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