nicht. Es war ihnen anzumerken, dass sie schon lange im Wald lebten und vollig verwildert waren. Wahrscheinlich sind es die DDR-Fluchtlinge, dachte ich, die gleich nach der Wende zusammen mit ihrer Platte in den Wald gezogen waren und dort nun gro?e graue Pilze zuchten. Ich ging zuruck ins Dickicht, und bald verlief ich mich vollig. Nur mit Muhe kam ich durch das Unterholz voran und kehrte um, zuruck zur Platte. Sie war nicht mehr zu finden. Irgendwann gab ich auf und redete mit mir selbst:

»Toll, Mensch. Das hast du klasse hingekriegt. Jetzt bist du endgultig eins mit der Natur. Bleib einfach da, bald wirst du selber zum Pilz.«

Plotzlich horte ich Stimmen, jemand sang ein Volkslied.

»Menschen!«, dachte ich und rief laut: »Hallo!«

»Du bedeutest mir sehr viel«, sagte die Stimme.

»Hallo! Hey!«, rief ich und ging weiter in Richtung Stimme, doch da war niemand. Sie kam wie aus dem Nichts. Das war wahrscheinlich meine innere Stimme, uberlegte ich. In der lauten Stadt konnte ich sie nie horen, hier in der Stille wollte sie nun mit mir Kontakt aufnehmen. Hor auf deine innere Stimme und alles wird gut!, sagte die innere Stimme. Ich strengte mich an, um alles zu verstehen. Die innere Stimme plapperte aber nur Quatsch:

»Das Wetter in Brandenburg, blabla, die Temperatur liegt bei 28 Grad, und nun horen Sie klassische Musik, Werke von Schumann, Beethoven und Dittersdorf.«

Ich uberlegte. Wenn das meine innere Stimme sein sollte, wer war dann Dittersdorf? Von so einem Komponisten hatte ich noch nie gehort, es konnte also unmoglich meine innere Stimme sein. Ich ging dorthin, wo die Musik spielte und ortete sie endlich. Die Musik und die Stimmen kamen von einer hochgewachsenen Fichte, die hinter der Raststatte stand, bei der wir geparkt hatten. Oben an dem Baum war ein ziemlich gro?er Radiolautsprecher angebracht. Von dort aus orakelte es in Richtung Wald. Meine Freunde waren schon langst dort versammelt und warteten auf mich. Ihre Korbe bewiesen, dass sie ihre Zeit im Wald nicht vergeudet hatten.

»Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt? Wir wollten dich schon als vermisst melden!«, riefen sie. »Hast du dich verlaufen?«

»No«, sagte ich, »ich hatte nur ein Rendezvous mit dem Komponisten Dittersdorf.«

Blumen aus Moskau

Meine Nachbarn sind anstandige Menschen, sie haben nur eine Macke. Sie lesen keine Zeitung. Ihre Nachrichten beziehen sie aus dem Internet. Papiernachrichten sind Propaganda, sie werden von den Journalisten, die sich fur Meinungsmacher halten, extra aussortiert, behaupten sie. Aber, wenn wir uns bei mir auf dem Balkon zu einer Trinkrunde versammeln, lese ich manchmal aus der einen oder anderen Zeitung vor, um die Gesellschaft in ein Gesprach zu verwickeln.

»Berlin bekommt einen neuen Knast«, las ich neulich. Das Thema Knast stie? auf ein unerwartet gro?es Interesse in der Runde. Jeder hatte einen Freund, der mal gesessen hat oder einen, dem das gerade bluhte.

»Ein neuer Knast? Endlich!«, sagte meine Frau. »Wird auch langsam Zeit.«

Der Elektriker aus der Kneipe, in der sie fruher gearbeitet hatte, musste einmal drei?ig Tage in Tegel absitzen, wegen Schwarzfahrens und anderer Strafen, erzahlte sie. Er fuhr freiwillig ein, wurde aber schon nach zwei Tagen vorzeitig entlassen - aus Platzmangel. Auch ich konnte eine Geschichte beisteuern: Bei uns im Theater hatte sich einmal ein alterer Herr als Theaterdirektor beworben. Er sah sehr solide aus und hinterlie? einen guten Eindruck im Bewerbungsgesprach, wo er erzahlte, wie er das Theatralische im Leben uber alles schatze. Danach verschwand er jedoch genau so plotzlich wie er aufgetaucht war. Monate spater erfuhren sie im Theater, ihr Beinahe-Direktor sitze wegen Betrugs in Tegel. Er hatte als Geschaftsfuhrer einer nicht existierenden Baufirma Einfamilienhauser verkauft, die ihm gar nicht gehorten und war dann mit der Anzahlung abgehauen.

»Ich war auch schon mal im Tegeler Knast - als Blumenbote!«, begann Sergej seine Geschichte. Er schloss die Augen und legte eine lange Pause ein.

»Blumenbote im Knast? Wie das? Erzahl!«, drangten wir ihn.

Also lie? sich unser Freund uberreden weiterzuerzahlen:

»Bevor ich Andrej kennengelernt habe und bei ihm eingezogen bin, hatte ich eine kleine Wohnung in Neukolln gemietet, neben einem Auslanderheim. Ich habe damals viele Landsleute aus diesem Heim kennengelernt. Es gab dort sehr unterschiedliche Menschen, zum Beispiel welche, die erfolgreich kriminell waren, und solche, die es lieber hatten lassen sollen. Ich habe mich besonders mit Ivan angefreundet, einem schlechten Verbrecher. Einmal war er schon ertappt und des Landes verwiesen worden. Aber er kam illegal wieder zuruck nach Deutschland und landete hier schnell im Knast. Was er genau angestellt hatte, wei? ich nicht, aber das ganze soll total in die Hose gegangen sein. Ein paar schlaue Freunde von ihm hatten einen tollen Plan ausgeheckt, aber als der nicht aufging, liefen alle weg, nur Ivan blieb stehen. Als Illegaler, der zum zweiten Mal in Deutschland war, wurde er diesmal nicht abgeschoben, sondern zu drei Jahren Haft verurteilt und in Tegel eingebuchtet.

Dort hatte er gleich am ersten Tag eine Auseinandersetzung mit einem deutschen Knacki. Mangels Sprachkenntnissen war Ivan daran gehindert, dem Kollegen sein Unrecht verbal vorzuhalten, also musste er gestikulieren. Der Deutsche bekam dabei etwas auf den Kopf, fuhlte sich sofort zusammengeschlagen und schrieb einen Beschwerdebrief. Daraufhin wurde Ivan als besonders aggressiver Krimineller eingestuft, ohne Freigang und ohne Hoffnung auf Bewahrung. Der Tag seiner Entlassung sollte zugleich der Tag seiner Abschiebung sein. Deswegen durfte er auch nicht an der Berufsausbildung im Knast teilnehmen, nur ein bisschen Sprachunterricht und Sport standen ihm zu. Er hat in Tegel dann gut Deutsch gelernt, und das konnte nicht ohne Folgen bleiben. Ivan begann eine Affare im Knast. Eines Tages rief er mich an.

›Ich habe dich noch nie um etwas gebeten. Sie hat morgen Geburtstag, kannst du ihr einen Blumenstrau? bringen?‹

Er hatte mir die Frau ziemlich undeutlich beschrieben, gro?, hubsch, braune Haare... Am nachsten Tag nach der Arbeit kaufte ich einen Blumenstrau? und fuhr nach Tegel zum Knast. Ich hatte mir Ivans Braut die ganze Zeit als Gefangene vorgestellt, erst als sich das Tor hinter mir schloss, merkte ich, dass ich eigentlich in einem Mannerknast war. Zwei Aufseher fragten mich, in welcher Angelegenheit ich gekommen ware.

›Freunde aus Moskau haben mich angerufen, mit der Bitte, diesen Blumenstrau? Frau Muller zu ubergeben. ‹

Ich zeigte auf die Blumen.

›Konnen Sie sich ausweisen?‹, fragten die beiden.

Sie nahmen meine Papiere und verschwanden in irgendeinem Korridor. Zwanzig Minuten, eine halbe Stunde waren vergangen, niemand kam. Nur ein diensthabender Polizist beobachtete mich aus seinem gepanzerten Glashauschen. Ich hatte gro?e Lust umzudrehen und nach Hause zu gehen. Die Papiere konnten sie mir dann spater per Post nachschicken, uberlegte ich. Doch das ging nicht, die Tur hinter mir war zu. Wo hast dich da schon wieder reingeritten?, beschimpfte ich mich. Vor einer Stunde warst du ein freier Mensch, jetzt bist du ein Knacki mit Blumenstrau?. Wie konnte das nur passieren? Eine Ewigkeit verging, bis die beiden Aufseher in Begleitung eines ranghohen Beamten zuruckkamen.

›Blumen? Aus Moskau?‹, fragte er misstrauisch. ›Fur Frau Muller? Sie wird sie nicht nehmen!‹

›Ist in Ordnung‹, sagte ich friedlich, ›das kann ich gut verstehen. Dann werfe ich diese Blumen einfach weg und fahre nach Hause, wenn Sie nichts dagegen haben.‹

›Nein, warten Sie hier‹, sagte der Beamte. Die drei verschwanden erneut. Ich stellte den Blumenstrau? in die Ecke. Der Aufseher, der von seinem Fensterchen aus, auf mich aufpasste, schuttelte kritisch den Kopf. Ich nahm den Blumenstrau? wieder in die Hand. Der Beamte kam nach einer Weile zuruck. Er sah nachdenklich aus.

›Sie hatte heute bis 18.00 Uhr Schicht‹, sagte er, ›Sie hatten fruher kommen sollen.‹ Er druckte auf einen Knopf, und die Tur hinter mir ging auf. ›Sie hatte sie aber bestimmt nicht genommen‹, fugte er zum Abschied hinzu.

Ich atmete aus. Ich hatte mich innerlich schon auf Schlimmeres vorbereitet. Ohne meine Freude uber die

Вы читаете Meine russischen Nachbarn
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×