bekam er von einem Kurierdienst einen Karton ausgehandigt. Mit diesem Karton kreuzte er dann wieder bei mir auf, denn so gro? war sein Vertrauen in den Doktor doch nicht. Er wollte nicht allein in hypnotisiertem Zustand in der Wohnung sitzen. Wir packten das Paket zusammen aus. Laut beiliegender Instruktion sollte der Fremdsprachenliebhaber zuerst die Broschure lesen, dann das Meditationsobjekt - eine kleine silberne Kugel, die an einer Schaukel hing - mit Hilfe von zwei Elektrobatterien in Bewegung setzen, dann die Kassette in den Rekorder schieben, Kopfhorer aufsetzen und sich in einem Sessel entspannen. So einfach war das Ganze.

Andrej wollte wissen, wie man feststellt, ob man schon hypnotisiert war oder erst auf dem Weg dahin. Daruber konnten wir in dem Buch keine Informationen finden, dafur jedoch zahlreiche Tipps, was zu tun war, wenn die Sache schiefging. Doktor Hoffmann beschrieb ausfuhrlich die am haufigsten auftretenden Probleme und Fragen seiner Patienten:

»Sie haben sich die Kassette zwolfmal angehort, konnen aber die von Ihnen gewunschte Fremdsprache noch immer nicht. Das bedeutet: Ihr Unterbewusstsein ist uberlastet und kann die Informationen nicht ordnungsgema? speichern. Machen Sie einfach eine Pause. Gehen Sie an die frische Luft, versuchen Sie, ein paar Tage nicht zu trinken und nicht zu rauchen. Schlafen Sie sich gut aus, und dann versuchen Sie es mit der Kassette erneut.«

Oder: »Sie haben sich die Kassette mehrmals angehort und nun das Gefuhl, dass Sie die von Ihnen gewunschte Fremdsprache flie?end konnen. Sie wird aber als solche von Ihrer Umwelt nicht erkannt. Keiner versteht Sie. Bewahren Sie Ruhe. Das Unterbewusstsein der meisten unserer Mitmenschen ist ebenfalls oft uberlastet. Reagieren Sie nicht auf Spott. Gehen Sie an die frische Luft, versuchen Sie, ein paar Tage nicht zu trinken und nicht zu rauchen. Schlafen Sie sich gut aus, und versuchen Sie es dann mit der Kassette erneut.«

Weiter hie? es: »Sie haben sich die Kassette zwolfmal angehort und beherrschen nun eine Fremdsprache, aber nicht die, die Sie sich gewunscht haben. Sie und Ihre Mitmenschen sind uberzeugt, dass es sich um eine Fremdsprache handelt, aber keiner wei?, um welche. Bewahren Sie Ruhe. Wenden Sie sich an den Hersteller. Unsere Spezialisten stehen Ihnen rund um die Uhr zu Verfugung.«

Vorsichtig erkundigte ich mich bei Andrej, ob angesichts dieser Informationen seine Opferbereitschaft in Bezug auf den Fortschritt nicht doch etwas ubertrieben war.

»Stell dir mal vor«, sagte ich zu ihm, »du horst dir die Kassette ein paarmal an und kannst anschlie?end gar keine Sprache mehr. Das ware doch auch moglich. Dann kannst du dich auch nicht mehr an den Hersteller wenden, nicht mal an die Polizei oder den Notarzt, dann bist du erledigt.«

»Stimmt nicht«, sagte Andrej, »ich kann immer noch E-Mails schreiben.«

Mir wurde klar, wie ernst ihm die Sache war. Ich versprach, in der Nahe zu bleiben, fur alle Falle, und verdruckte mich in die Kuche. Eine Stunde lang horte ich Andrej im Wohnzimmer fluchen: Sein Organismus wehrte sich und wollte nicht hypnotisiert werden. Doch irgendwann wurde es still in der Wohnung. Man konnte fast horen, wie die Audiokassette im Rekorder quietschte und die gewunschte Fremdsprache in Andrejs Unterbewusstsein tropfte. Ich las - zum vierzigsten Mal - Anna Karenina und fand das Werk erneut faszinierend. Als ich das Kapitel uber den auslandischen Prinzen gerade durchhatte, erschien Andrej in der Kuche. Er sah mude, aber zufrieden aus.

»Na, wie geht es dir, mein Freund?«, fragte ich ihn vorsichtig.

Er zundete sich schweigend eine Zigarette an. Dann sagte er in nahezu perfektem Deutsch:

»Tschuss, bis zum nachsten Mal, wenn es wieder hei?t: Popkonzert« - und lachte.

Der Enkel des Partisanen

Die Wege der Auslander, die in Deutschland landen, sind verschlungen. Ich kenne Landsleute, die als wertvolle Computerspezialisten nach Deutschland gekommen sind, andere werden als politische Fluchtlinge anerkannt. Manche kommen als Russlanddeutsche, im Zuge der Zusammenfuhrung von Blut und Boden, und einige geben an, sie wurden eine Million in die deutsche Wirtschaft investieren und bekommen dadurch ein Aufenthaltsrecht. Mein Nachbar Sergej gehort zu der wahrscheinlich kleinsten Minderheit der Einwanderer: Er kam als Enkel eines wei?russischen Partisanen nach Deutschland, eingeladen von einem deutschen Kriegsveteranen.

In seiner Heimatstadt Gomel, der zweitgro?ten Stadt Wei?russlands, gehorte Sergej zu den Studenten, die Deutsch statt Englisch oder Franzosisch lernten. Eine Perversitat. Aber er behauptete, er fande den Klang der deutschen Sprache attraktiv. In der Regel sind Menschen, die kein Deutsch verstehen, von dieser Sprache alles andere als begeistert. Man sagt, Englisch hore sich an wie ein Popsong, Franzosisch wie ein Kuss, Russisch wie ein Trinkspruch und Deutsch wie Husten. Deutsch zu lernen ist an der russischen Universitat der beste Weg, ein Au?enseiter zu werden. Sergej studierte Deutsch beinahe im Alleingang.

Doch in den spaten Neunzigerjahren kamen immer haufiger Touristen aus Deutschland nach Wei?russland, und Sergejs Sprachkenntnisse zahlten sich aus. Er wurde von einem Reiseburo, als personlicher Dolmetscher und Betreuer fur Reisende angeheuert, die nicht in Gruppen, sondern alleine, auf eigene Faust, durch Wei?russland reisten. Diese Einzeltouristen waren komische Menschen. Niemand von ihnen kam nach Wei?russland, um einfach ein wenig in den Waldern spazieren zu gehen. Sie alle hatten einen Plan. In der Regel ging es um die Rettung der Menschheit oder einzelner Personen. Bei der Erfullung dieses Plans waren sie jedoch auf die Hilfe eines erfahrenen Dolmetschers angewiesen. Sergej finanzierte mit diesem Job seine damaligen Hobbys, Boxen und Rapmusik. Zusammen mit ein paar Freunden grundete er die erste wei?russische Rapband und richtete ein Tonstudio ein. Sie rappten in ihrer Heimatsprache, aber anders als der amerikanische Rap war der wei?russische nicht bose oder aggressiv, nicht einmal sozialkritisch. In ihren Rapsongs ging es hauptsachlich um schnelle Autos und um Frauen, auf die immer Verlass war.

So verging das Leben. Sergej studierte Politologie, rappte, boxte, lernte weiter Deutsch und versuchte in der ubrig gebliebenen Zeit, den deutschen Touristen zu helfen. Das war nicht leicht. Der eine wollte Hilfsguter in ein Waisenhaus bringen und sie eigenhandig unter den bedurftigen Kindern verteilen, damit die Erwachsenen nichts fur sich abgriffen. Sergej fuhr mit ihm zusammen zu einem Kinderheim, in dem die Not am gro?ten war. Sie verteilten die Guter, und als sie die Raume dort in schlechtem Zustand vorfanden - im Schlafzimmer war sogar ein Loch in der Decke -, sorgte der Deutsche dafur, dass das Dach repariert wurde. Ein anderer Tourist wollte unbedingt Tschernobyl besuchen, um die Natur nach der Explosion des AKW zu beobachten und beispielsweise zu sehen, wie gro? die Wurmer geworden waren. Sergej fand ein Loch im Zaun, der seit 1987 geschlossenen Anlage und sie kletterten hindurch. Ein dritter Tourist wollte unbedingt mit Einheimischen um die Wette saufen: Sergej stellte sich ihm als Mittrinker zur Verfugung. Ein vierter wollte ein einheimisches Madchen mit Riesenbrusten aus einem Bordell retten: Sergej half ihm bei den Verhandlungen. Es war nie langweilig mit den Deutschen.

Einmal kam ein alter Mann aus Norddeutschland, der unbedingt einen Kriegsveteranen kennenlernen wollte, am liebsten einen, der auch noch in Gefangenschaft gewesen war. Der Tourist war selbst Kriegsveteran. Er hatte irgendwo in den Waldern von Wei?russland gegen Partisanen gekampft, war gefangen genommen worden und hatte nach dem Krieg sechs Jahre in einem sibirischen Lager uberlebt. Der einfachste Weg, diesen Touristen glucklich zu machen, ware, ihn zu Sergejs eigenem Gro?vater zu bringen. Dieser war ebenfalls im Krieg gewesen und besa? Orden und Auszeichnungen bis zu den Knien. Seine Uniform zog er allerdings nicht einmal am Tag des Sieges an. Sergejs Gro?vater war 1941 mit seiner Einheit in den Kessel bei Rowno geraten, war dann bei den Partisanen, wurde verhaftet und kam in ein KZ. Anders als die meisten Kriegsgefangenen musste er jedoch nach der Befreiung nicht auch noch einige Jahre in sowjetischen Lagern absitzen. In der Familie galt er als schwieriger Mensch mit einem leichten Knall. Er redete wenig, und vom Krieg erzahlte er gar nichts. Er weigerte sich, seine Kriegsverletzungen untersuchen zu lassen, und er weigerte sich, die Granatsplitter, die er vom Krieg im Korper zuruckbehalten hatte, entfernen zu lassen. Er meinte, die Granatsplitter seien ein Teil seines Korpers geworden. Sein Enkelkind liebte er uber alles.

Einmal wollte der kleine Sergej unbedingt mit dem Jagdgewehr seines Gro?vaters schie?en. Drau?en sa?en Gaste, die Familie feierte gerade ein Jubilaum. »Dann lass uns hier drin schie?en«, quengelte der Junge. Der Gro?vater konnte einfach nicht nein sagen - und schoss mit Schrot in den Ofen, der daraufhin neu gesetzt werden

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