musste. Die Oma und die anderen Frauen schrien vor Angst und Wut, aber der Gro?vater zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Das Enkelkind darf einmal schie?en.« Bei Tisch a? der Gro?vater nur mit seinem Kriegsloffel, den er aus dem deutschen Lager mitgenommen hatte. Er gab ihn nie aus der Hand, und niemand durfte den Loffel des Gro?vaters anfassen, au?er Sergej. Der Loffel war von allen Seiten abgekaut, dunn, fast durchsichtig und auf der unteren Seite war ein Hakenkreuz eingraviert.

Sergej wusste nicht, wie sein Gro?vater auf den deutschen Touristen reagieren wurde, ging aber das Risiko ein. Sein Plan war, mit dem Deutschen zusammen bei ihm aufzukreuzen, ihr Gesprach zu ubersetzen und dann je nach dem, was kam, zu handeln. Sein Gro?vater lie? sie in die Wohnung, verschwand in der Kuche, kam mit einer Halbliterflasche Wodka zuruck, verteilte den Inhalt der Flasche auf zwei Glaser und gab eines dem Touristen. Beide leerten ihre Glaser in einem Zug, schauten einander in die Augen und weinten. Danach umarmten sie sich, und der Deutsche ging weg, ohne ein Wort zu sagen. Uberhaupt war wahrend des ganzen Treffens kein einziges Wort gefallen und Sergejs Ubersetzerfahigkeiten nicht gefordert worden.

Am nachsten Tag traf er den Deutschen wieder. Dieser lud Sergej ein, ihn in seiner Heimatstadt Vechta zu besuchen. So kam Sergej zum ersten Mal nach Deutschland. Die Stadt fand er klein und hasslich, aber alle sprachen Deutsch, und es gab sogar eine Universitat, die kleinste Deutschlands. Der Kriegsveteran, der ihn eingeladen hatte, galt in Vechta ebenfalls als Mann mit einem Knall - mit einem Russenknall. Wahrend die meisten in der Stadt dicke Autos fuhren, raste er auf einem sowjetischen Motorrad der Marke Ural durch die Gegend, das stank und Krach machte. Auch hatte er sein Haus nicht im norddeutschen Stil, sondern mit Ornamenten nach russischer Art geschmuckt.

Sergej beschloss, erst einmal ein Paar Semester in Deutschland zu studieren. Er immatrikulierte sich an der dortigen Universitat, schrieb sich fur BWL ein und blieb. Geld zum Leben verdiente er in einer Fabrik, die Verpackungslinien fur Huhnereier produzierte. Das Studium gefiel ihm gut, die Stadt weniger. Er ging lieber in den Wald oder zum Sport als in eine Kneipe. Kaum war er mit dem Studium fertig, zog er zuerst nach Koln und dann nach Berlin. Mir erzahlte er, er fuhle sich in Deutschland manchmal wie ein Partisan. Wie der Nachkomme eines Partisanen.

Erdbeeren mit Sahne

Wenn in bundesdeutschem Kontext von Berlinern die Rede ist, dann hei?t es fast immer, sie wurden meckern. Damit wird der Zustand permanenter Unzufriedenheit und Lebensenttauschung als einer Berliner Eigenart hervorgehoben. Anderswo sind die Menschen rundum glucklich und zufrieden. Selbst wenn ihnen eine Taube auf den Kopf kackt, lacheln sie dem Vogel dankbar hinterher und fuhlen sich in die Geheimnisse der Natur eingeweiht.

Meine Erfahrung ist: Nicht die Berliner, sondern alle, die im Sozialismus aufgewachsen sind, beschweren sich dauernd uber alles Mogliche. Bulgaren, Rumanen, Serben, sie alle fuhlen sich verraten und verkauft, ganz zu schweigen von meinen Landsleuten, die sich selbst am starksten bemitleiden. Man hat sie verfuhrt, ihnen das gro?e Gluck versprochen, und das sogar zweimal: das allgemeine Gluck des Kommunismus, das sich nie in ein personliches Kleinburgergluck verwandeln durfte und uberhaupt im realen Leben nie eintraf. Und dann die linkische Lottofortune des Kapitalismus, deren einziges klares Versprechen darin bestand, die fruheren Versprechungen endgultig abzulosen.

Nichts von alldem hat funktioniert. Deswegen gehen meine Landsleute nun als ewig Unzufriedene durch die Welt und meckern. Das Bett ist fur sie immer zu hart, das Brot zu trocken, das Wetter zu schlecht. Fur eine gluckliche Zukunft, egal wie sie aussehen mag, sind sie hoffnungslos verloren. Sie wissen, alles war schon einmal da und obendrein noch besser. Dafur liebe ich sie.

Gestern in der Herbsthitze fuhr mir mein Nachbar Andrej auf dem Fahrrad uber den Weg.

»Kannst du mir sagen, was das soll? Bin ich etwa nach Spanien emigriert?«, schimpft er.

Ich schuttelte nur den Kopf und sagte nichts. Es war ja sowieso eine rhetorische Frage. Spanien hatte Andrej nie Asyl gewahrt.

»Ich habe doch extra Deutschland ausgewahlt, wegen der ausgeglichenen Wetterverhaltnisse, damit ich nach dem regnerischen und feuchten Petersburg nicht gleich in die Sonne komme. Und nun das, 32 Grad im Schatten! Mir geht dieser Klimawandel schwer auf den Geist. Soll ich jetzt etwa nach Norwegen auswandern oder nach Gronland? Ich kenne dort niemanden, was sind das fur Menschen, diese Norweger? Wie leben sie, was lieben sie?«

Plotzlich donnerte und blitzte es uber unseren Kopfen, die ersten Regentropfen fielen auf den grauen Asphalt. Wir verabschiedeten uns schnell. Andrej fuhr weiter, seine Unzufriedenheit blieb aber auch nach seinem Abtauchen im Regen hangen wie ein Uberbleibsel aus alter Zeit, ein Appendix des Sozialismus, der sich nicht herausoperieren lasst. Egal was passiert, wir werden immer meckern. Wie in der alten sozialistischen Anekdote, in der ein Pionier seinen Lehrer fragt, was Kommunismus eigentlich ist. Der Lehrer bemuht sich, den Kommunismus in einer kindgerechten Sprache zu erklaren.

»Kommunismus ist«, sagt er, »wenn du jeden Tag zum Fruhstuck Erdbeeren mit Sahne essen wirst.«

»Ich mag aber keine Erdbeeren mit Sahne«, erwiderte der Schuler.

»Das ist egal, du wirst sie trotzdem essen«, klart ihn der Padagoge auf.

Gesprache uber die Ewigkeit

Mein Freund Sergej feierte seinen dreiunddrei?igsten Geburtstag im engen Kreis seiner Freunde und Familienangehorigen. Ich erinnerte mich bei dieser Gelegenheit an meinen eigenen dreiunddrei?igsten Geburtstag, der im bedeutungsvollen Jahr 2000 stattfand. Damals schien mir das Leben, sein abenteuerlicher Teil zumindest, endgultig aus und vorbei zu sein. Aber ich hatte mich geirrt, die Abenteuer fingen da erst an. Bei meinem Freund schlug sich der dreiunddrei?igste Geburtstag in pathetischen Gefuhlsausbruchen nieder. Wir tranken Hochprozentiges und sinnierten dabei uber die Ewigkeit.

»Nein, nein, ich mochte auf keinen Fall ewig leben, dadurch macht man sich in den Augen der Mitmenschen nur lacherlich«, philosophierte Sergej. »Als Ewiglebender umgeben von Sterblichen wird man in jeder anstandigen Gesellschaft schnell zur Vogelscheuche. Niemand wird mit einem solchen Menschen etwas zu tun haben wollen. Wenn du willst, dass deine Gaste schnell nach Hause gehen, lade einen Unsterblichen ein und bitte ihn, etwas Lustiges uber sein ewiges Leben zu erzahlen. Spatestens nach zehn Minuten wird die Party zu Ende sein«, so sah das mein Freund.

Ich stimmte ihm zu. Ein ewiges Leben als Greis konnte ich mir auch nicht vorstellen. Aber beispielsweise siebzig Jahre lang dreiunddrei?ig zu sein, das konnte ich mir sehr gut vorstellen. Kein Teenager mehr, ein reifer, aber vom Leben noch nicht frustrierter Mann, kein Langweiler, aber ein Romantiker geblieben, das ware cool. Also sagte ich:

»Wenn mir eine hohere Macht zwei Optionen zur Auswahl anbieten wurde: das ewige Leben als Greis oder siebzig Jahre lang dreiunddrei?ig, wurde ich mich, ohne mit der Wimper zu zucken, gegen die Ewigkeit, aber fur die verlangerte Jugend entscheiden. Ja, das wurde ich tun.«

»Ich nicht«, widersprach Sergej. »Eine solche Jugend ist auf Dauer nicht cool, sie ist sogar ziemlich blod. Als ich mit siebenundzwanzig nach Deutschland kam, war ich allein und nur auf mich selbst gestellt. Ich hatte keine Arbeit, keine Familie, nicht einmal richtige Freunde, nur einen BWL-Studienplatz, den ich noch aus eigener Tasche finanzieren musste. Ich dachte damals: Blo? die Ruhe bewahren, alles wird gut. Mein Vorbild war der unrasierte Mann aus dem Fernsehwerbespot, der fur Jever Reklame machte. Abend fur Abend fiel

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