Ihre gemeinsamen Erfahrungen hatten die drei Kollegen eng zusammengeschwei?t. Fur Geung war Dtui eine Schwester und Siri ein Gro?vater. Obwohl er seine Gefuhle nicht erklaren konnte, liebte er die beiden uber alles. Selbst wenn er nicht recht begriff, was los war, litt er mit ihnen. Er freute sich uber ihre Siege, er beweinte ihre Niederlagen – und registrierte mit der Prazision eines Luftschiffbarometers, wie es um die beiden bestellt war. Sie vertrauten ihm, und seine Ehrlichkeit bewahrte ihn davor, leere Versprechungen zu machen. Auf Geung war bisher immer Verlass gewesen: Wenn er eine Verpflichtung einging, war es ihm oberstes Gebot, sie auch zu erfullen. Darum hatte Genosse Dr. Siri ihm vor ihrer Abreise das Versprechen abgenommen, die Pathologie bis zu ihrer Ruckkehr sorgsam zu huten.

Wahrend der Abwesenheit des Doktors gab es fur ihn nicht allzu viel zu tun. Das Krankenhaus konnte hochstens zwei Leichen auf einmal aufnehmen. Geungs Aufgabe bestand darin, sie in der einzigen vorhandenen Kuhlkammer wie in einem Etagenbett ubereinanderzustapeln. Mit einem plotzlichen Massenandrang von obduktionsbedurftigen Leichen war kaum zu rechnen. Zwar grassierte im Vientiane-Becken eine Dengue-Epidemie, doch wie die ihr todbringendes Werk vollbrachte, war kein Geheimnis: Fieber, Erschopfung, Blutungen, Exitus. Die Pathologie war lediglich fur ratselhafte Todesfalle an den staatlichen Krankenhausern zustandig sowie fur die Mordopfer, die ihr bisweilen von der Polizei uberstellt wurden.

Wenn sie einen Fall hereinbekamen, war Herr Geung unentbehrlich. Aber da er nicht uber die erforderliche Qualifikation verfugte, durfte er seine Arbeit nur im Beisein eines Arztes verrichten. Und so beschrankte sich seine Tatigkeit derzeit darauf, zu fegen, Staub zu wischen, Schaben zu verscheuchen und das Buro zu bewachen. Er nahm seine Aufgabe ernst; er hatte sogar Decken und Kissen aus seiner Kammer mitgebracht und war fest entschlossen, im Seziersaal Posten zu beziehen.

Er war die Friedfertigkeit in Person. Gefuhle wie Wut und Zorn waren ihm fremd, und er konnte sie auch nicht heucheln. Er wirkte in etwa so furchteinflo?end wie ein chinesischer Teigklo?. Und so war es nicht weiter verwunderlich, dass er die beiden Uniformierten, die mit einem Mal in die Pathologie platzten und unwirsch seinen Namen brullten, mit einem Lacheln begru?te, das in dem Moment verflog, als er ihre Waffen erblickte.

»Wa… wa… was kann ich fur Sie tun, G… Genossen?«, fragte er.

Sie richteten ihre Pistolen auf ihn und druckten ab. Herr Geung machte ein verdutztes Gesicht. Dann fiel er zu Boden wie eine reife Jackfrucht vom gleichnamigen Baum.

3

HUNGER IN HOUAPHAN

Der mitrei?ende Refrain des vom Prasidenten eigenhandig verfassten Patriotischen Arbeitsliedes Nr. 17 – »Wir wollen jaten fur die Republik« – schreckte Siri aus seinen Morgengedanken.

»Du liebe Zeit.«

Achzend und mit knackenden Knochen setzte sich der Doktor auf und streckte die Beine unter dem Moskitonetz hindurch. Falls er geschlafen hatte, konnte er sich nicht daran erinnern. Nach dreiundsiebzig Lebensjahren war die Zeit fur ihn zu einem kostbaren Gut geworden, und er hatte soeben sechs Stunden verschenkt, ohne etwas dafur bekommen zu haben. Er rappelte sich hoch und wankte tapsig wie ein neugeborener Welpe zum Fenster.

Durch den Spalt in den grunen Nylonvorhangen sah er die singenden Polizisten mit geschulterten Spaten und Hacken auf die Ladeflache eines Armeetransporters klettern. Auch wenn die Warter Abstand wahrten und ihre Dienstwaffen gesenkt hielten, wirkten sie deshalb nicht minder bedrohlich. Das Schrillen einer Trillerpfeife diktierte jede Bewegung. Die Gefangenen standen Augen geradeaus, und der Transporter setzte sich in Bewegung und holperte langsam den Feldweg entlang. Das Lied entschwand samt Sangern in den Nebel. Die Felsspitzen und die tiefhangenden grauen Wolken liefen ineinander wie auf einem chinesischen Aquarell.

Siri stellte sich unter den kalten Wasserstrahl in der Gemeinschaftsdusche. Abgestandenes, nach Karbol und Erde stinkendes Wasser quoll zwischen den losen Fliesen unter seinen Fu?sohlen hervor. Er zog sich an und kam auf dem Weg zum Fruhstuck an dem Wachposten vorbei, der einsam und allein auf einem Klappstuhl vor der Sperrholzwand sa? und dumpf vor sich hin doste.

»Wohlsein«, wunschte Siri, erhielt jedoch keine Antwort.

Der Speisesaal beherbergte zehn wacklige, ungedeckte Tische, gerahmte Schwarz-Wei?-Fotografien von Helden der Revolution – und Dtui.

»Morgen, Doc.«

»Guten Morgen. Wie lange sitzen Sie schon hier?«

»Eine knappe Stunde. Ich konnte nicht schlafen.«

»Ich auch nicht.« Schwerfallig lie? er sich ihr gegenuber nieder. Nirgends war ein Laut zu horen. »Hoffentlich mussen wir nicht erst ein Liedchen schmettern, damit wir unser Fruhstuck serviert bekommen.«

»Ich finde es hier irgendwie unheimlich.«

»Dann geht es Ihnen wie mir.«

»Das glaube ich kaum. Jedenfalls sind nachts bislang noch keine Geister zu mir ins Bett gekrochen. Trotzdem, die Bude hier ist mir irgendwie nicht ganz geheuer. Au?erdem habe ich noch nie …« Sie zog die Nase kraus.

»Noch nie was?«

»Na ja, Sie wissen schon … noch nie allein geschlafen.«

»Dtui, ich habe das ungute Gefuhl, dass Sie mir schon wieder einen Schwund aufbinden wollen.«

»Nein, im Ernst. Normalerweise schlafe ich entweder bei meiner Mutter – oder im Schwesternwohnheim. Allein fuhle ich mich hier oben nicht besonders sicher.«

»Daran werden Sie sich wohl oder ubel gewohnen mussen. Mir graut bei dem Gedanken, dass Sie den Moskauern feierlich verkunden, nachts nicht gern allein zu sein, auch wenn das Ihrer Beliebtheit bei den jungen Herren der Schopfung keinen Abbruch tun durfte. Sie konnen schlie?lich weder Ihre Mutter noch die Schwestern mit in den Ostblock nehmen.«

»Falls ich jemals dorthin komme.«

»Da habe ich nicht den geringsten Zweifel.«

Siri wandte den Kopf und sah sich nach der Bedienung um. Es war ihm ein bisschen peinlich, Dtui schon wieder Hoffnungen machen zu mussen. Naturlich gab es Zweifel. Vor Kurzem hatte sie die Aufnahmeprufungen zu weiterfuhrenden Schulen in den kommunistischen Landern Europas absolviert. Sie bildete sich seit Jahren heimlich fort, da die Klinikverwaltung unter keinen Umstanden erfahren durfte, dass sie intelligenter war, als ihre Vorgesetzten annahmen. In Zeiten wie diesen galt Eigeninitiative als verdachtig. Dtui hatte Politik, Medizin und Russisch belegt und damit gute Chancen, das Gros der Medizinstudenten auszustechen, die darunter litten, dass ihre Professoren uber den Mekong geflohen waren. Siris einzige Befurchtung war, dass sie von Verwandten der treuen Parteikader von der Liste gedrangt werden konnte.

Sie brauchte sich nur an die Spielregeln zu halten. Siri hatte ihr beigebracht, wie man den Prufern Sand in die Augen streute. Er hatte sein halbes Leben kommunistische Scharaden aufgefuhrt. Doch sein Glaube an das System war dahin, seit er hatte mit ansehen mussen, wie Eitelkeit und Geltungsdrang eine nahezu perfekte Doktrin zugrunde richteten. Was eigentlich als Werkzeug gedacht war, wurde als Waffe missbraucht, und er war nicht besonders stolz auf seine achtundvierzigjahrige Mitgliedschaft in der Partei. Dtui hatte die drei Gratisjahre in Moskau notiger als die meisten anderen. Das gro?zugig bemessene Auslandsstipendium, verbunden mit der Aussicht auf eine Halbtagsstelle, waren fur eine bettelarme Laotin wie sie ein wahrer Segen. Leider gingen die meisten Studienbeihilfen an Bewerber, die uber die notigen Beziehungen verfugten, und au?er Siri kannte Dtui niemanden, der sich fur sie hatte verwenden konnen. Zu ihrem Leidwesen hatte er sich strikt geweigert, sich in denselben Sumpf von Macht und Korruption hinabzerren zu lassen, der in den vergangenen Jahren die meisten seiner Genossen verschlungen hatte. Weder hatte er ein Mitglied des Politburos um eine Gefalligkeit gebeten, noch seinen guten Draht zum Gesundheitsministerium schamlos ausgenutzt. Allerdings hatte er sich einen Sitz in dem Gremium erschlichen, das uber die Stipendienantrage befand. Wenn streng nach Leistung geurteilt wurde, war Dtui ein Platz im Flugzeug nach Moskau schon so gut wie sicher, daran gab es fur ihn nichts zu rutteln. Doch in der Demokratischen Volksrepublik Laos war gar nichts selbstverstandlich.

Siri sah sich in dem tristen, halbdunklen Speiseraum um, konnte jedoch nirgends ein Lebenszeichen

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