Fur Siri und Soun, 

die trotz aller Schicksalsschlage uberlebten, 

erwachsen wurden und heute zwei 

wunderschone Tochter haben. 

Und fur Poki und Panoy, von Loong C.

1

GASTEHAUS NR. 1

Dr. Siri lag unter dem speckigen Moskitonetz und beobachtete die Eidechse bei ihrem dritten Versuch. Zwei Mal schon war das kleine graue Tier die Wand hinaufgeflitzt und hatte sich bis an die Decke vorgewagt. Beide Male war das Undenkbare geschehen. Das Reptil hatte den Halt verloren und war auf den nackten Betonfu?boden des Gastehauses geklatscht. Was fast ebenso widernaturlich schien, als wenn ein Mensch der Erdenhaftung verlustig gehen und mit Schmackes an die Zimmerdecke krachen wurde. Siri sah den verdatterten Ausdruck in dem runzligen kleinen Gesicht. Die Echse blickte einen Moment lang verwirrt um sich und steuerte dann von Neuem auf die Wand zu.

Seit gut vier Wochen fragte sich der staatliche Leichenbeschauer Dr. Siri Paiboun, ob sein neues Ich die Tiere womoglich in ihrem naturlichen Verhalten storte. Zwar mochte es schon vorher zu Unregelma?igkeiten gekommen sein, doch erst seit die Promenadenmischung aus der Eisfabrik damit begonnen hatte, in seinem Vorgarten ein Nest zu bauen, nahm er davon bewusst Notiz. Irgendwie war es der Hundin gelungen, sich aus alten Autositzen und Zementsacken, die sie durch das Gartentor geschleift hatte, ein recht unbehaglich anmutendes Heim zu schaffen. Und da sa? sie nun tagaus, tagein und wartete geduldig auf ein Ei, das niemals kommen wurde. Eine Woche spater dann hatten sich die Mause aus den Reisfeldern hinter der Siedlung plotzlich zu einer regelrechten Bande zusammengerottet und angefangen, die Katze seines Nachbarn zu terrorisieren. Und als Siri heute Morgen zu seiner Reise ins Landesinnere aufgebrochen war, hatte er auf dem Dachfirst seines Hauses in Vientiane allen Ernstes eine Henne sitzen sehen. Da es weit und breit keine Leiter gab, lie? das nur einen Schluss zu: Das Federvieh musste aufs Dach geflogen sein. Und nun auch noch die Eidechse. Selbst wenn all das blo?er Zufall war, kam es ihm doch reichlich seltsam vor. Seit Siri um seine schamanische Herkunft wusste, widerfuhren ihm die merkwurdigsten Dinge.

Wieder einmal schob er sich den kleinen Finger in den Mund und zahlte seine Zahne. Eine Gewohnheit, von der er nur schwer lassen konnte, nachdem er vor einigen Monaten erfahren hatte, dass er etwas Besonderes war. Sie waren vollzahlig vorhanden – alle dreiunddrei?ig. Damit hatte er genauso viele Zahne wie der Magier Prinz Phetsarat; genauso viele wie einige der angesehensten Schamanen; genauso viele wie der leibhaftige Buddha. Siri befand sich also in erlauchter Gesellschaft. Doch obwohl er uber die erforderliche Anzahl von Zahnen verfugte, hatte er seine Fahigkeiten noch immer nicht so recht im Griff.

Vor Kurzem erst war Siri dahintergekommen, dass der Geist eines alten Hmong-Schamanen namens Yeh Ming in seinem Korper wohnte. Bis dahin hatte er die Begegnung mit den Seelen der Verstorbenen, die ihn bisweilen im Traum heimsuchten, fur eine Art Geisteskrankheit gehalten. Er hatte sich gar nicht erst die Muhe gemacht, ihre Botschaften zu deuten. Und folglich auch nicht bemerkt, dass die Geister ihm im Traum Hinweise auf die Ursache ihres Todes gaben. All das hatte sich im letzten Jahr grundlegend geandert. Yeh Ming war aktiver geworden – oder, anders ausgedruckt: erwacht – und hatte den Unmut der bosen Waldgeister auf sich gezogen. Fragliche Geister, die sogenannten Phibob, hatten es auf Siris Urahn abgesehen, und da dieser in Siris Korper wohnte, war Siri unversehens in die Schusslinie geraten. Das Feuer des Ubernaturlichen hatte ihn erfasst.

Da den alten Chirurgen so leicht nichts mehr schrecken konnte, fand er die mysteriosen Vorfalle uber die Ma?en amusant. Sein Leben schien von Tag zu Tag aufregender zu werden. Wahrend andere Leute seines Alters sich in ihr Los ergeben hatten und wie ein abgelaufenes Uhrwerk dem letzten Pendelschlag entgegenkrauchten, war Siri wiedergeboren worden, hinein in eine Welt zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Jeder neue Tag hatte es in sich. Er fuhlte sich lebendiger denn je. Wenn es sich denn tatsachlich um eine Form der Altersdemenz handelte, so genoss er sie insgeheim in vollen Zugen und hatte es nicht besonders eilig, sich davon zu erholen.

Obwohl Siri im Mai seinen dreiundsiebzigsten Geburtstag gefeiert hatte, war er robust und kraftig wie ein Dschungelwildschwein. Zwar lie? seine Lunge ihn von Zeit zu Zeit im Stich, doch seine Muskeln und sein Verstand funktionierten noch genau so tadellos wie vor vierzig Jahren. Ein uppiger wei?er Haarschopf schmuckte sein Haupt, und sein sympathisches Gesicht mit den stechend grunen Augen entlockte selbst Frauen, die halb so alt waren wie er, nicht selten ein kokettes Lacheln. Seine Freunde waren sich einig, dass Dr. Siri Paiboun noch lange nicht die Puste ausgehen wurde.

Die Pritsche mit dem Moskitonetz, unter dem Siri lag und die Eidechse beobachtete, stand im Parteigastehaus Nr. 1 der Demokratischen Volksrepublik Laos; man schrieb das Jahr 1977. »Gastehaus« war nicht unbedingt die treffendste Bezeichnung fur das zweistockige Gebaude, das vietnamesische Schuhkartonfetischisten vor ein paar Jahren errichtet hatten. Es hatte nicht die geringste Ahnlichkeit mit einem Haus, und wer hier einsa?, war alles andere als ein Gast. Die meisten Bewohner hatten sich ideologisch gegen das Parteidiktat versundigt. Hier wiegte man die Dorfvorsteher, Staatsbeamten und Armeeoffiziere des alten royalistischen Regimes in dem Glauben, man habe sie zu einem Ferienaufenthalt in den Bergen der Provinz Houaphan geladen, zu einem Bildungsurlaub im revolutionaren Hauptquartier.

Am fruhen Abend hatten Siri und Schwester Dtui mit ein paar Mannern aus dem Suden – ehemals hochrangigen Polizisten des royalistischen Regimes – Kaffee getrunken. Die Gendarmen waren nach wie vor davon uberzeugt, dass sie hier ein politisches Seminar besuchten und nach einem Grundkurs in Marxismus-Leninismus in Kurze nach Vientiane zuruckkehren wurden. In ausgelassener Stimmung hatten sie auf der Veranda im Parterre auf unbequemen roten Plastikstuhlen beisammengesessen. Da die Manner ihren ersten Nachmittag mit »Kennenlern«-Aktivitaten verbracht hatten, trugen sie immer noch papierne Namensschildchen, die mit Heftklammern an ihren Brusttaschen befestigt waren. Hinter dem Namen jedes Mannes stand das Wortchen »Offizier«, gefolgt von einer Zahl. Um nicht gegen die Rangordnung zu versto?en, sa?en sie in numerischer Reihenfolge.

Sie hatten getont, wie glucklich sie sich schatzten, einen Teil des Landes kennenlernen zu durfen, der diesen Stadtmenschen so fremd war wie ein ferner Kontinent. Sie sprachen uber die Einheimischen wie ein Tourist von Afrikanern oder wunderlichen Europaern. Noch ahnten sie nicht, dass ihr Abstecher in die Provinz vermutlich Monate, wenn nicht gar Jahre dauern wurde. Sie ahnten nicht, dass man sie aus dem vergleichsweise komfortablen Gastehaus in ein gut achtzig Kilometer entfernt gelegenes Lager bei Sop Hao an der vietnamesischen Grenze verschleppen wurde. Dort wurden sie Bautrupps zugeteilt, die Stra?en ausbessern, zerbombte Brucken wiederaufbauen und den einheimischen Bauern dabei helfen mussten, das verminte Land von Blindgangern zu raumen. Abends wurden sie im gelblichen Schein von Bienenwachslampen in Arbeitskreisen rings um eine gro?e Schiefertafel sitzen. Sie wurden die Daten der bedeutendsten Schlachten, die Anzahl der Gefallenen und die Namen der gro?en Revolutionsfuhrer auswendig lernen. So, wenn nicht schlimmer, sah laotische Umerziehung aus.

Zu guter Letzt wurden sie, entweder aus personlicher Uberzeugung oder aber schierer Verzweiflung, feierlich ewige Hingabe an die Sache schworen. Wenn sie dabei halbwegs uberzeugend wirkten, durften sie eines Tages eventuell zu ihren Familien zuruckkehren. Wenn nicht, wurde man ihren Familien einen Ortswechsel ans Herz legen. Nur Frauen, die ihre Manner wirklich liebten und bereit waren, auf den Luxus des Stadtlebens zu verzichten, nahmen solch ein Angebot an. Die meisten flohen uber den Mekong, um in Thailand ihr Gluck zu suchen.

Aber davon wussten die gut gelaunten Manner auf der Veranda des Gastehauses noch nichts. Sie glaubten, ihre Reise diene einzig und allein dem Zweck, sie zu bekehren, sie sozusagen umzurusten wie einen Benzinmotor auf Diesel. Sie bildeten sich ein, sie wurden ein wenig uber den Kommunismus lernen, danach die Hohlen

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