mehr als ein Provinzkaff.

Die Einheimischen pflegten ein simples Weltbild. In ihren Augen gab es nur zwei Kategorien von Geistesschwache: schwerfallig wie ein satter Panda und verruckt wie ein betrunkener Wei?handgibbon. In Thangon gab es je ein Exemplar dieser beiden Spezies. Die alte Tante Soun hatte kurzzeitig als Schamanin praktiziert, bis sie verga?, wie man die bosen Geister wieder in den Wald entlie?. Sie rumorten und brodelten in ihr wie in einem Kessel, bis dieser schlie?lich platzte und ihr die Sicherung durchbrannte. Seitdem war sie beruhmt fur ihre wirren Schimpftiraden und ihre gelegentlichen Anfalle von Exhibitionismus.

Geung hingegen war ein sehr stilles Baby gewesen, eines von sieben Kindern. Da er alle korperlichen Merkmale des Down-Syndroms aufwies, war man sich einig, dass es wenig Sinn hatte, den Jungen zur Schule zu schicken. Zwar tat er sich mit dem Lernen in der Tat recht schwer, was jedoch nicht zuletzt daran lag, dass niemand sich die Muhe machte, ihm etwas beizubringen. Allein seine Mutter rief ihn bei seinem Namen. Fur seinen Vater und seine Geschwister hie? er nur der »Dummkopf«. Und da sie es nicht bose meinten, glaubte Geung noch im reifen Alter von achtzehn Jahren, dass der Irrtum bei seiner Mutter lag.

Die Watajaks waren Bauern, und so gestaltete sich ihr Tagesablauf einfach und monoton, was dem frohlichen Jungen sehr entgegenkam. Dank der harten Arbeit wuchs er zu einem kraftigen Burschen heran, und das Leben im Kreise der Familie gab ihm ein Gefuhl der Nestwarme und der Geborgenheit. Damit war es allerdings von heute auf morgen vorbei, als sein Vater mit ihm und zweien seiner Geschwister eines Tages nach Vientiane fuhr, um ihnen eine Arbeit zu besorgen. Sie waren alt genug, und sie durchzufuttern kostete die Familie ein Vermogen. Es war an der Zeit, dass sie sich dem Faulpelz gegenuber erkenntlich zeigten, der sich immerhin die Muhe gemacht hatte, sie zu zeugen. Ihre Mutter wurde gar nicht erst gefragt.

Die Schwester fand eine Anstellung in einem aus Bambus und Wellblech zusammengezimmerten »Nachtclub« in der Hanoi Road unweit des Marktes. Leider wurde sie ihr Geld hauptsachlich in der Horizontalen verdienen, aber ein vierzehnjahriges Bauernmadchen ohne Schulbildung durfte sich glucklich schatzen, wenn es uberhaupt Arbeit fand. Geungs jungerer Bruder ergatterte einen Job am Busbahnhof, wo er Fahrgaste warb, Billets einsammelte und lauthals verkundete, wohin die Reise ging, wahrend er sich bei voller Fahrt aus der offenen Tur des Busses lehnte.

Doch sein Vater wusste, dass ihm das Schwierigste noch bevorstand: Arbeit fur Geung zu finden. Denn welcher normale Mensch stellte schon einen Dummkopf ein? Aber der Alte war nicht nur stinkfaul, sondern kannte auch nicht den geringsten Skrupel. Und so schleppte er seinen achtzehn Jahre alten Sohn zur Mahosot-Klinik, wo er die Dienste des Jungen gratis feilbot, im Tausch gegen eine Handvoll Essensreste und einen Schlafplatz auf dem nackten Boden. Hospitaler seien schlie?lich fur Kranke da, rief er der Personalchefin der Klinik ins Gedachtnis, worauf diese den fatalen Fehler beging, einen Augenblick zu zogern, bevor sie Nein sagte. Als sie nach getaner Arbeit aus ihrem Buro kam, sah sie Geung allein auf einer Holzbank sitzen, auf dem Scho? ein in Zeitungspapier gewickeltes Paket.

»Wo ist Ihr Vater?«

»Zu Hause«, lautete die nuchterne Antwort.

»Also, hier konnen Sie aber nicht bleiben. Das ist Ihnen hoffentlich klar.«

Sein Lacheln entblo?te ein Gebiss, das aussah, als stamme jeder Zahn aus einem anderen Mund. Als sie am nachsten Morgen zum Dienst erschien, sa? Herr Geung noch immer an derselben Stelle. Ebenso am nachsten und am ubernachsten Tag. Und immer lachelte er, entblo?te seine schiefen Zahne und wunschte ihr Wohlsein. Sein Zeitungspaket schrumpfte von Tag zu Tag, bis er seinen Trockenfisch schlie?lich verspeist hatte. Und so wurde Geung Watajak zum ersten unbezahlten Mitarbeiter des modernsten Krankenhauses in Vientiane.

Wie sich herausstellte, gab es einen Arbeitsplatz, der fur normale Menschen ganzlich ungeeignet war. Er befand sich in der Rumpelkammer hinter der Klinikwascherei und hatte binnen zwei Monaten vier Bewerber vergrault. Hier kamen die mit roten Etiketten versehenen Plastiksacke aus den Kranken- und Operationssalen an. Das Etikett bezeichnete stark verschmutzte Wasche. Bei den Verschmutzungen handelte es sich im Allgemeinen um Blut und Exkremente, oft jedoch auch um andere kleine Uberraschungen, die man eilig in Decken und Laken geschlagen hatte. Aus all den Fundstucken, die er im Lauf der folgenden funf Jahre sammelte, hatte Herr Geung vermutlich ohne Weiteres diverse menschliche Leichname zusammensetzen konnen.

Seine Aufgabe war es, die rot etikettierte Wasche und die Gummischurzen der Chirurgen auszuspulen und von Fremdkorpern zu befreien, bevor sie in der Wascherei gekocht wurden. Dafur bekam er eine kleine Schlafkammer und Essensbons fur die Personalkantine zugeteilt. Er beschwerte sich nie uber seine grausige Arbeit oder seine mangelnde Bezahlung, sondern fugte sich klaglos in sein Schicksal. Wenn sein Vater den Lohn seiner Sprosslinge »eintrieb«, schaute er hin und wieder rasch bei seinem Sohn vorbei. Obwohl Geung ihm kein Geld geben konnte, brachte der Alte stets ein wenig Obst mit oder ein mit Klebreis gefulltes Bambusrohr sowie den neuesten Klatsch und Tratsch von Leuten, an die Geung so gut wie keine Erinnerung mehr hatte. Der junge Mann fragte nie, ob er wieder nach Hause kommen durfe.

Dank seines unkomplizierten, aufrichtigen Wesens war Geung bei Schwestern und Klinikpersonal sehr gern gesehen. Bald war er so beliebt, dass einer der Arzte, Dr. Pongruk, beschloss, es sei an der Zeit, ihn aus der Roten Kammer zu befreien. Geung hatte seine Stellung in der Mahosot-Klinik angetreten, als die Amerikaner Laos gepachtet hatten – und die meisten seiner Bewohner gleich mit. Mit ihrem Geld finanzierten die Besatzer die Gehalter der Regierung, die Aufrustung des Militars und den Ausbau der Infrastruktur, in der Hoffnung, dem Vormarsch der Kommunisten auf diese Weise Einhalt gebieten zu konnen. Das amerikanische Entwicklungshilfeministerium hatte Dr. Pongruk in Bangkok und Washington zum Forensiker ausbilden lassen. Bei seiner Ruckkehr sollte er auf dem Klinikgelande eine neue Pathologie aufbauen.

Neben Dr. Pongruks Gehalt stellten die Amerikaner auch ein kleines Halbtagssalar bereit, mit dem die laotischen Behorden die Dienste einer Teilzeitkrankenschwester zu finanzieren gedachten. Als der Arzt ihnen erklarte, er habe einen uberaus kompetenten Mitarbeiter ausfindig gemacht, der gern bereit sei, sich mit halbem Lohn fur eine volle Stelle zu begnugen, kannte ihr Entzucken keine Grenzen – bis sie dahinterkamen, wen der Doktor im Sinn hatte. Wie so viele war auch Dr. Pongruk entsetzt gewesen, als er erfuhr, dass Geung all die Jahre keinen Lohn erhalten hatte. Ihm war klar, dass die Klinik Geung auf Grund seiner Krankheit und seiner fehlenden Ausbildung unmoglich einstellen konnte. Aber mit dem Untergang des Lane-Xang-Konigreiches war in Laos auch die Sklaverei ausgestorben, und er wollte sich Geung gegenuber irgendwie erkenntlich zeigen.

Die amerikanische Ubergangsregierung erteilte ihm seinen Segen, und der Doktor machte sich daran, Herrn Geung zu seinem Assistenten auszubilden. Er bewies unendliche Geduld und opferte zahllose Uberstunden, um Geung auf seine Pflichten in der Pathologie vorzubereiten. Und der junge Mann ging mit gro?er Begeisterung ans Werk. Bald konnte er eine Schadeldecke entfernen, ohne das Gehirn auch nur zu streifen, und mit seiner langen Schere durchtrennte er Rippen, als seien sie aus Kreide. Er schleppte Leichen und verstreute Leichenteile durch den Sektionssaal wie ein fursorgliches Mitglied der Familie des Verstorbenen.

»Es ist, als wurde man ein Boot mit kee-see-Harz versiegeln«, erklarte der Doktor eines Abends seiner Frau. »Es dauert eine Weile, bis das Harz getrocknet ist, aber dann konnte man die Planken nicht einmal mehr mit Hammer und Mei?el auseinanderstemmen.« Als Dr. Pongruk und seine Frau eines Nachts uber den Mekong schwammen, um dem zu entgehen, was die Kommunisten mit Akademikern wie ihnen anstellen wurden, lie?en sie einen Pathologieassistenten zuruck, dem in Sachen Labor- und Obduktionsverfahren in ganz Laos niemand das Wasser reichen konnte. Leider hatte er jetzt keinen Chef mehr. Die Pathologie war geschlossen. Wieder musste Geung ein halbes Jahr lang in der Roten Kammer Dienst tun. Doch weder beklagte er sich, noch empfand er die Versetzung als Degradierung. Fur ihn war es schlicht und einfach Schicksal.

Eines Tages dann erschien Dr. Siri auf der Bildflache, erloste Dtui aus ihrer Fron auf der Station und brachte frischen Wind und neues Leben in die Pathologie. Die beiden konnten und mochten auf Geungs Sachkenntnis nicht verzichten, und so wuchsen sie schon bald zu einem echten Team zusammen. Auch wenn man sie schwerlich als Profis bezeichnen konnte. Siri war zwar sein Leben lang Chirurg gewesen, hatte aber noch nie einen Leichnam obduziert und in dieser Hinsicht eigentlich auch keine Ambitionen. Er harrte der Pension, die er sich verdient zu haben glaubte, und stand einem beruflichen Neuanfang zunachst au?erst skeptisch gegenuber. Im ersten Jahr forschten und studierten sie am leblosen Objekt. Und da sie weder uber ein Labor noch uber moderne Instrumente, geschweige denn aktuelle Lehrbucher verfugten, war die Pathologie der Mahosot-Klinik manchmal noch heute Schauplatz wildester Experimente. Ware Siris Gabe – sprich seine Fahigkeit, mit den Geistern der Toten in Kontakt zu treten – nicht gewesen, ware ihnen zweifellos der eine oder andere schwere Fehler unterlaufen.

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