»Wer wei?? Wir wissen ja noch nicht einmal, was wir hier sollen. Womoglich schickt man uns kreuz und quer durch den Nordosten. Warum, was mochten Sie sich denn ansehen?«

»Meine Mutter hat mir von einem Tempel bei Xieng Keuang erzahlt, in dem man eine Buddha-Reliquie besichtigen kann.« Siri verzog den Mund zu einem schiefen Lacheln. »Was ist?«

»Was fur eine Reliquie ist es denn diesmal, Schwester Dtui? Ein Zahn? Ein abgetrennter Zeh? Ein Augapfel?«

»Sie sind ein unverbesserlicher Zyniker«, ereiferte sie sich. »Das verrate ich Ihnen nicht.«

»Mit Zynismus hat das nichts zu tun, meine Teure. Wohl aber mit Mathematik und Physiologie. Zahlen Sie doch nur einmal die Tempel in Asien, die angeblich mit einem Korperteil oder doch wenigstens einem Fu?abdruck Buddhas aufwarten konnen. Wurde auch nur die Halfte dieser Behauptungen stimmen, durfte Seine Heiligkeit in der Tat einen bemerkenswerten Anblick geboten haben. Wie es scheint, tapste er auf Fu?en gro? wie Zisternendeckel durch die Lande, im Mund nicht nur dreiunddrei?ig, sondern mehrere tausend Zahne, wahrend ihm Fu?- und Fingernagel ausgingen wie einem tollwutigen Hund das Fell. Nicht auszudenken! Kein Wunder, dass ihm die Leute in Scharen hinterherliefen.«

Dtui ruckte ans andere Ende des Tisches. »Wo wollen Sie denn hin?«, fragte er.

»Nirgends. Ich mochte nur nicht neben Ihnen sitzen, wenn Sie der Blitzstrahl trifft.«

Siri lachte. »Sie haben bei Ihren politischen Schulungen offenbar tief und fest geschlafen, Genossin. Vom Politburo abgesehen gibt es keine Gotter. Und selbst wenn es einem veritablen Gott gelange, den Stacheldrahtzaun der Partei zu uberwinden, wurde er unverzuglich unter Hausarrest gestellt. Holle und Verdammnis sind ein fur alle Mal vom Tisch.«

»Kein Gott? Dann hat diese grandiose Landschaft wohl der alte Marx erschaffen?«

»Sie sind ja eine richtige kleine Dissidentin.«

»Trotzdem. Es ist wunderschon hier oben, Doc.«

»Wohl wahr, wenn man die Zeit hat, die herrliche Natur zu genie?en.«

»Sie meinen, wenn man nicht gerade damit beschaftigt ist, dem nachsten Bombenhagel zu entgehen?«

»Zehn lange Jahre habe ich wenig anderes getan als das. Und die armen Schweine zusammengeflickt, die nicht so viel Gluck hatten wie ich.«

»Wann wir wohl erfahren werden, warum wir eigentlich hier sind?«

Sie waren kurzfristig samt ihrer Ausrustung zum Flughafen Wattay beordert worden. Richter Haeng hatte sie uber Sinn und Zweck ihrer Mission im Unklaren gelassen und ihnen lediglich den Namen ihres Kontaktmannes genannt.

»Genosse Lit musste morgen fruh um neun Uhr hier sein.«

»Wer war das gleich noch mal?«

»Bezirkskommandeur, Staatssicherheit.«

»Ah ja. Kennen Sie ihn noch von fruher?«

»Der Name sagt mir nichts. Aber als Partei- und Armeefuhrung nach Vientiane umzogen, wurden hier oben zahllose Grunschnabel in Windeseile auf wichtige Posten gehievt. Manche Jungkader machten derart rasant Karriere, dass der hiesige Quartiermeister dem Vernehmen nach noch in den Windeln lag, als er in Amt und Wurden gelangte. Man musste erst einmal seine Rassel konfiszieren, um ihn zur Arbeit zu bewegen.« Dtui kicherte. »Ich wei? nicht. Gut moglich, dass mir dieser Lit schon einmal uber den Weg gelaufen ist«, fuhr Siri fort.

»Ob er wei?, dass Sie Ihre knuddelige, bildschone Assistentin mitgebracht haben?«

»Er wird zweifellos entzuckt sein.«

Wieder verfuhrte die Ruhe ringsum die beiden zu friedvollem Schweigen. Ein Hobbyfischer warf in dem tintenschwarzen Tumpel seine Netze aus. Die Eichhornchen zwitscherten wie heisere Spatzen. Dtui blickte zu der Treppe hinter Siri.

»Doc.«

»Ja?«

»Da oben an der Treppe …«

»Keine Ahnung.«

»Woher wissen Sie, was ich fragen wollte?«

»Sie wollten fragen, warum vor der Sperrholzwand dort oben ein bewaffneter Wachposten sitzt.«

»Hmmm. Nicht ubel. Haben Ihre Geister Ihnen eingeflustert, was ich denke?«

»Nicht notig. Es war nicht allzu schwer, Ihre Gedanken zu erraten. Erstens ist Ihre Neugier nachgerade unersattlich, darum war es nur eine Frage der Zeit, bis Sie sich danach erkundigen wurden. Und zweitens ist mir keineswegs entgangen, dass Sie mit dem Wachposten geflirtet haben.«

»Er war nicht sonderlich gesprachig.«

»Sie meinen, er wollte Ihnen nicht verraten, was sich hinter der Wand verbirgt?«

»Mit keiner Silbe. Geheimnisse kann ich auf den Tod nicht ausstehen.«

»Wir werden vor unserer Abreise schon noch dahinterkommen.«

Doch als er jetzt dosend auf seiner klumpigen Kapokmatratze lag und den Mucken dabei zusah, wie sie die nackte Gluhbirne umschwirrten, sann auch er uber das Geheimnis hinter der Sperrholzwand nach. Sie blockierte den Zugang zu einem Teil des ersten Stockwerks. Dem Grundriss des Erdgeschosses nach zu urteilen, musste es dort oben vier oder funf Zimmer geben. Er uberlegte, was an ihnen so besonders war. Seufzend fuhr er sich mit den Fingern durch das dichte wei?e Haar. Es war schon nach elf, und er hatte das ungute Gefuhl, dass er die ganze Nacht kein Auge wurde zutun konnen. Dafur ging ihm zu viel durch den Kopf. Und wenn es nicht gerade seine Gedanken waren, die ihm den wohlverdienten Schlaf raubten, gonnten sie ihm keine Ruhe. Er tastete nach dem antiken wei?en Amulett, das an einem fest geflochtenen wei?en Zopf aus Frauenhaar um seinen Hals hing. Als seine Finger es beruhrten, durchzuckte ein Stromsto? jede Faser seines Korpers. Plotzlich horte er sie noch deutlicher, ihr unentwegtes Schwatzen und Schnattern in der Ferne. Die Geister, die ihm fruher nur im Traum begegnet waren, wurden allmahlich dreister. Bisweilen erschienen sie sogar am helllichten Tag, oft im unpassendsten Moment. Noch bevor der klapprige russische Mi-14-Hubschrauber am Nachmittag gelandet war, hatte er sie gespurt, die Seelen der vielen tausend Menschen, die im Krieg ums Leben gekommen waren. Sie nahmen ihn grundlich in Augenschein, erkundeten ihn wie Touristen einen historischen Palast, um herauszufinden, ob er ein Schamane war, der ihr Vertrauen verdiente.

Ihre Stimmen waren rings um das Gastehaus zu horen: Mutter, die ihre Kinder von den offenen Feldern heimriefen, alte Frauen, die um die alten Manner weinten, die sie zuruckgelassen hatten, gickelnde Babys – die in ihrer Unschuld noch nicht ahnen konnten, dass sie seit vielen Jahren tot waren. Wie sollte Siri dabei schlafen? Und zu allem Ubel drohnte Punkt zwolf auch noch diese grassliche Discomusik los und machte jede Hoffnung auf eine gesegnete Nachtruhe zunichte. Er fragte sich, wem um diese Uhrzeit noch nach Tanzen zumute war und wie man diesen widerlichen Westlarm ernstlich goutieren konnte. Aber vielleicht handelte es sich ja auch um eine besonders perfide Foltertechnik, mit der die Partei die Funktionare aus Vientiane peinigen wollte. Etwas Grausameres konnte er sich schwerlich vorstellen.

2

DER HERR DER ROTEN KAMMER

Geung Watajak war im Oktober 1952 in einem Dorf namens Thangon unweit von Vientiane zur Welt gekommen, einer winzigen Ansammlung einfacher Holzhutten, die sich um einen Tempel scharten und in der Regenzeit regelma?ig vom Monsun hinweggespult wurden. Auf Karten war es nur deshalb verzeichnet, weil es dort eine altersschwache Fahre gab, die Reisende auf dem Weg zum gro?en Stausee uber den Nam-Ngum-Fluss setzte. Obwohl kaum ein Tourist je aus anderen Grunden nach Thangon fand, war rings um die Anlegestelle ein kleines Dorf entstanden. Doch trotz der Nahe zur Hauptstadt und des regen Durchgangsverkehrs war es kaum

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