»Ich kann mir nicht erklaren, was Eleanor Vansittart in der Turnhalle zu suchen hatte«, sagte Miss Bulstrode.
»Ich konnte mir vorstellen, dass sie sich Shandas Verschwinden mehr zu Herzen genommen hatte, als sie zeigte. Sie war ebenso besorgt wie Miss Chadwick, vielleicht noch mehr, denn die Entfuhrung hatte stattgefunden, wahrend
»Auch hinter ihrem sicheren Auftreten hat sich also eine gewisse Schwache verborgen«, murmelte Miss Bulstrode.
»Ja, und auch sie konnte nicht schlafen. Ich glaube, dass sie heimlich in die Turnhalle gegangen ist, um Shandas Schlie?fach zu untersuchen. Wahrscheinlich hoffte sie, dort einen Anhaltspunkt fur die Entfuhrung zu entdecken.«
»Sie scheinen fur alles eine Erklarung zu haben, Monsieur Poirot.«
»Das ist seine Spezialitat«, versetzte Kommissar Kelsey etwas boshaft.
»Und warum musste Eileen Rich Zeichnungen von verschiedenen meiner Lehrerinnen anfertigen?«
»Weil ich feststellen wollte, ob Jennifer ein Gesicht erkennen konnte. Ich uberzeugte mich sehr bald davon, dass sie so intensiv mit ihren eigenen Angelegenheiten beschaftigt war, dass sie sich kaum Zeit nahm, uber andere nachzudenken oder sie eingehend zu betrachten. Sie erkannte nicht einmal ein Portrat von Mademoiselle Blanche mit einer anderen Frisur. Sie wurde Ann Shapland noch weniger erkannt haben, die sie sowieso nur selten aus der Nahe gesehen hatte.«
»Sie glauben also, dass Ann Shapland die Frau mit dem Tennisschlager war?«
»Ja. Ann war daran gewohnt, sich im Nu in eine andere Person zu verwandeln. Eine blonde Perucke, anders gezeichnete Augenbrauen, ein elegantes Kleid, ein Hut mit breiter Krempe… Zwanzig Minuten spater hatte sie bereits wieder an ihrer Schreibmaschine sitzen konnen. Ich habe an Miss Richs verbluffenden Zeichnungen erkannt, wie leicht sich eine Frau mit au?eren Hilfsmitteln verandern kann.«
»Ja, Miss Rich…«, sagte Miss Bulstrode nachdenklich.
Poirot warf Kelsey einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Ich muss jetzt gehen«, erklarte Kelsey. »Soll ich Miss Rich bitten hereinzukommen?«
Poirot nickte.
Eileen Rich kam mit bleichem, aber trotzigem Gesicht ins Zimmer.
»Sie wollen wissen, was ich in Ramat zu suchen hatte, Miss Bulstrode?«, fragte sie.
»Ich habe, glaube ich, eine Idee«, erwiderte Miss Bulstrode.
»Ich auch«, sagte Poirot. »Obwohl Kinder heutzutage theoretisch uber alles aufgeklart sind, bleiben ihre Augen manchmal unschuldig.«
Er fugte hinzu, dass auch er sich nun leider verabschieden musse.
»Das war’s also, nicht wahr?«, fragte Miss Bulstrode mit kuhler, sachlicher Stimme. »Jennifer beschrieb die Frau, die sie gesehen hatte, ganz einfach als dick. Sie war sich nicht im Klaren daruber, dass sie schwanger war.«
»Ja, ich erwartete ein Kind«, gestand Eileen Rich.
Nach einer kurzen Pause fragte sie schlicht:
»Soll ich sofort gehen oder bis zum Ende des Schulhalbjahrs dableiben?«
»Sie bleiben bis zum Ende des Schulhalbjahrs«, erwiderte Miss Bulstrode. »Und ich erwarte, dass Sie nach den Ferien wieder zuruckkommen, falls die Schule, wie ich noch immer hoffe, weiterbestehen wird.«
»Sie wollen mich wirklich hier behalten?«, fragte Eileen.
»Selbstverstandlich. Sie haben doch keinen Mord verubt oder einen Juwelendiebstahl geplant, oder? Sie haben nichts getan, als dass Sie Ihren naturlichen Instinkten gefolgt sind. Sie haben sich in einen Mann verliebt, Sie haben sein Kind geboren – wahrscheinlich war eine Heirat ausgeschlossen –, das ist kein Verbrechen.«
»Ich wusste von Anfang an, dass er mich nicht heiraten konnte«, erklarte Eileen.
»Also gut. Sie hatten ein Verhaltnis«, sagte Miss Bulstrode. »Wollten Sie das Kind haben?«
»Ja, ich wollte es haben«, erwiderte Eileen Rich.
»Ich verstehe… Und jetzt werde ich Ihnen auf den Kopf zusagen, dass Ihre wirkliche Berufung die einer Lehrerin ist, trotz dieser Liebesgeschichte. Ich glaube, dass Ihnen Ihr Beruf mehr bedeutet, als einen Mann und Kinder zu haben, nicht wahr?«
»Zweifellos. Das habe ich schon immer gewusst.«
»Gut, in diesem Fall durfen Sie mein Angebot nicht ausschlagen«, fuhr Miss Bulstrode fort. »Ich hoffe, dass es uns gemeinsam gelingen wird, Meadowbank wahrend der nachsten beiden Jahre wieder zu einer ausgezeichneten Schule zu machen. Sie haben diesbezuglich sicher andere Ideen als ich, die ich mir anhoren und die ich manchmal vielleicht sogar ausfuhren werde. Sie mochten doch sicher Verschiedenes andern?«
»Offen gestanden – ja«, entgegnete Eileen. »Ich wurde gro?eren Wert darauf legen, wirklich intelligente Madchen in die Schule aufzunehmen.«
»Das snobistische Element ist es also, das Sie nicht mogen«, stellte Miss Bulstrode fest.
»Ja. Ich finde, es schadet der wirklichen Aufgabe dieser Schule.«
»Sehen Sie, Eileen, um die Madchen zu bekommen, die Sie wollen, brauchen Sie eben jenes snobistische Element; ein paar auslandische Prinzessinnen, ein paar beruhmte Namen – und all die dummen, snobistischen Eltern, in England wie im Ausland, wollen ihre Tochter nach Meadowbank schicken. Das Resultat? Ellenlange Wartelisten, aus denen ich mir meine Schulerinnen aussuchen kann – und ich suche sehr sorgfaltig aus, glauben Sie mir. Ich wahle intelligente, charaktervolle, ernsthafte Madchen, oft auch ein aufgewecktes Kind unbemittelter Eltern. Sie sind jung und idealistisch, Eileen. Aber Sie mussen lernen, dass zum Erfolg nicht nur Idealismus, sondern auch Geschaftssinn gehort. Wir werden es nicht leicht haben, unsere Schule wieder auf die Beine zu bringen, aber wir werden es schaffen – davon bin ich fest uberzeugt.«
»Ich auch. Ich wei?, dass Meadowbank bald wieder die beste Schule Englands sein wird«, erklarte Eileen begeistert.
»Gut – und nun noch eine Kleinigkeit: Lassen Sie sich Ihr Haar schneiden; der Knoten steht Ihnen nicht besonders.«
Nach einer kurzen Pause fuhr Miss Bulstrode mit veranderter Stimme fort: »So, und jetzt muss ich zu Chaddy gehen.«
Miss Chadwick lag bleich und still auf dem Bett. Ihr Gesicht war blutleer, fast leblos. Ein Polizist mit einem Notizbuch sa? auf der einen Seite des Bettes, Miss Johnson auf der anderen. Sie blickte Miss Bulstrode an und schuttelte traurig den Kopf.
»Nun, Chaddy«, sagte Miss Bulstrode. Sie ergriff Chaddys Hand. Miss Chadwick offnete ihre Augen.
»Ich muss dir etwas sagen«, flusterte sie. »Eleanor – ich bin – ich habe es getan.«
»Ich wei?, meine Liebe.«
»Es war… Eifersucht…«
»Ich wei?, Chaddy«, beruhigte sie Miss Bulstrode.
Langsam rollte eine Trane uber Miss Chadwicks fahle Wange.
»Es ist so furchtbar… ich wollte es nicht tun…«
»Du darfst nicht mehr daruber nachdenken«, sagte Miss Bulstrode.
»Aber das ist unmoglich… Du wirst mir nie… ich werde mir selbst nie vergeben…«
Miss Bulstrode druckte ihr die Hand.
»Du hast mir das Leben gerettet, Chaddy. Mein Leben und das Leben von Mrs Upjohn. Das darfst du nicht vergessen.«
»Ich wunschte nur, ich hatte
Miss Bulstrode sah sie mitleidig an. Miss Chadwick atmete schwer, dann lachelte sie, legte den Kopf zur Seite