um uber Raufereien und Motorrader zu reden, und rauchen eine Zigarette nach der anderen. Alle scheinen ein Kreuz auf ihren schon gebeugten Schultern zu tragen, ein Galeerenschicksal mitzuschleppen, in dem der Aufenthalt in Berck nur eine Station zwischen einer Kindheit als geschlagener Hund und einer Zukunft als Arbeitsloser ist. Wenn ich durch ihre verrauchte Hohle fahre, wird es still wie in der Sakristei, aber ich kann in ihren Augen weder Mitleid noch Mitgefuhl lesen.

Durch das offene Fenster hort man das bronzene Herz des Krankenhauses schlagen, die Glocke, die das Himmelsblau viermal in der Stunde zum Schwingen bringt. Auf einem Tisch voll leerer Becher ruht eine Schreibmaschine mit einem quer eingespannten rosa Blatt Papier. Wenn das Blatt vorlaufig auch jungfraulich bleibt, bin ich doch sicher, da? eines Tages eine Botschaft fur mich darauf stehen wird. Ich warte.

Im Musee Grevin

Heute nacht habe ich im Traum das Musee Grevin besichtigt. Es hatte sich sehr verandert. Der Eingang im Stil der Belle Epoque, die Zerrspiegel und das Gruselkabinett waren noch da, aber die Galerien mit den Personlichkeiten aus der Gegenwart hatte man verschwinden lassen. Im ersten Raum habe ich die ausgestellten Personen nicht gleich erkannt. Da der Kostumbildner sie in Stadtkleidung gesteckt hatte, mu?te ich sie eine nach der anderen mustern und ihnen im Geist einen wei?en Kittel uberziehen, bevor ich merkte, da? diese gaffenden Kerle im T-Shirt, diese Madels im Minirock, diese zur Statue erstarrte Hausfrau mit ihrem Einkaufswagen, dieser junge Mann mit Motorradhelm in Wirklichkeit die Krankenschwestern und Pfleger waren, die sich von morgens bis abends an meinem Bett ablosen. Alle waren sie da, in Wachs erstarrt, die Sanften, die Brutalen, die Sensiblen, die Gleichgultigen, die Aktiven, die Faulen, die, zu denen ein naherer Kontakt entsteht, und die, in deren Handen ich nur ein Kranker unter anderen bin.

Anfangs haben manche mich in Angst und Schrecken versetzt. Ich sah in ihnen nur meine Gefangniswarter, die Gehilfen bei einem abscheulichen Komplott. Spater habe ich andere geha?t, wenn sie mir den Arm umdrehten, wahrend sie mich in den Rollstuhl setzten, mich eine ganze Nacht vor dem eingeschalteten Fernseher verga?en, mich trotz meines Kopfschuttelns in einer schmerzhaften Haltung sitzenlie?en.

Einige Minuten oder einige Stunden lang hatte ich sie umbringen konnen. Und dann, da die Zeit die kalteste Wut verschlingt, sind sie Vertraute geworden, die ihrer heiklen Mission, so gut es geht, nachkommen: unser Kreuz ein wenig aufzurichten, wenn es unsere Schultern zu sehr wund scheuert.

Ich habe sie mit Spitznamen versehen, die nur ich kenne, damit ich sie, wenn sie mein Zimmer betreten, mit meiner drohnenden inneren Stimme anrufen kann: »Hallo, Blauauge! Salut, gro?er Duduche!« Sie wissen naturlich nichts davon. Der um mein Bett tanzt und Rockerposen annimmt, wenn er mich fragt: »Wie geht's?«, ist David Bowie. Prof bringt mich mit seinem grauhaarigen Kinderkopf und dem Ernst zum Lachen, den er aufsetzt, um den immer gleichen Satz loszulassen: »Hoffentlich passiert nichts.« Rambo und Terminator sind, wie man schon ahnt, nicht gerade Muster an Sanftheit. Da ist mir Thermometer schon lieber, deren Hingabe vorbildlich ware, wenn sie nicht systematisch dieses Utensil in meiner Achselhohle vergessen wurde.

Dem Wachsbildner des Grevin ist es mit wechselndem Erfolg gelungen, die Vollmondgesichter und die hubschen Fratzchen dieser seit Generationen zwischen den Winden der Cote d'Opale und den fetten Feldern der Picardie lebenden Menschen des Nordens einzulangen, die gern in ihren Dialekt verfallen, sobald sie unter sich sind. Manche ahneln sich kaum.

Es hatte des Talents eines jener mittelalterlichen Miniaturisten bedurft, deren Pinsel das Landvolk auf den Stra?en Flanderns wie durch Zauberei zu neuem Leben erweckte. Diese Begabung hat unser Kunstler nicht. Er hat es jedoch verstanden, auf naive Weise den jugendlichen Reiz der Schwesternschulerinnen wiederzugeben, die drallen Arme der hiesigen Madchen und das Karminrot ihrer vollen Wangen.

Beim Verlassen des Raums dachte ich, da? ich sie alle gern mag, meine Qualgeister.

Im folgenden Saal entdeckte ich zu meiner Uberraschung eine scheinbar identische Wiedergabe meines Zimmers im Hopital maritime. Bei naherem Hinsehen erwiesen sich die Fotos, Zeichnungen und Poster allerdings als ein Patchwork aus ungenauen Farben, ein Dekor, das aus einer gewissen Entfernung eine Illusion erwecken sollte wie die Farbtupfen eines impressionistischen Gemaldes. Im Bett war niemand, nur eine von fahlem Licht umgebene Vertiefung in der Mitte der gelben Laken. Hier fiel es mir nicht schwer, die in den schmalen Durchgangen neben diesem verlassenen Lager stehenden Personen zu identifizieren. Es waren die Mitglieder der verstarkten Wache, die am Tag nach der Katastrophe spontan um mich herum entstanden war.

Auf einem Hocker sitzend, schrieb Michel sorgfaltig in das Heft, in dem meine Besucher alle meine Au?erungen verzeichnen. Anne-Marie arrangierte einen Strau? von vierzig Rosen. Bernard hielt in der einen Hand Paul Morands Journal d'un attache d'ambassade und machte mit der anderen eine Advokatengeste. Die Nickelbrille auf seiner Nasenspitze tat ein ubriges, ihm das Aussehen eines professionellen Tribuns zu geben. Florence pinnte mit einem melancholischen Lacheln, das von ihrem schwarzen Haar umrahmt wurde, Kinderzeichnungen auf eine Korkplatte, und Patrick lehnte an einer Wand und schien in Gedanken versunken. Von diesem wie lebendig wirkenden Tableau ging eine gro?e Sanftheit aus, eine gemeinsame Traurigkeit und ein Konzentrat jener ernsten Zuneigung, die ich bei jedem Besuch dieser Freunde verspure.

Ich wollte meinen Rundgang fortsetzen, um zu sehen, ob das Museum noch andere Uberraschungen fur mich bereit hatte, aber in einem dunklen Gang hielt mir ein Warter seine Fackel mitten ins Gesicht. Ich mu?te blinzeln. Beim Erwachen beugte sich eine wirkliche kleine Krankenschwester mit rundlichen Armen und einer Taschenlampe in der Hand uber mich: »Ihre Schlaftablette, soll ich sie Ihnen jetzt oder erst in einer Stunde geben?«

Der Angeber

Die Banke des Pariser Gymnasiums, auf denen ich meine ersten Jeans abwetzte, habe ich gemeinsam mit einem langen, rotgesichtigen Jungen gedruckt, der Olivier hie? und dessen galoppierende Mythomanie den Umgang sympathisch machte. Mit ihm brauchte man nicht ins Kino zu gehen. Man sa? standig auf dem besten Platz, und dem Film fehlte es nicht an Effekten. Montags uberraschte er uns mit Erzahlungen von seinem Wochenende, die Tausendundeiner Nacht wurdig waren. Wenn er seinen Sonntag nicht mit Johnny Hallyday verbracht hatte, war er in London gewesen, um den nachsten James-Bond-Film zu sehen, es sei denn, jemand hatte ihm die neue Honda geliehen. Damals wurden gerade die japanischen Motorrader in Frankreich eingefuhrt und versetzten die Schulhofe in Begeisterung. Von morgens bis abends wickelte uns unser Schulkamerad in kleine Lugen und gro?e Prahlereien ein, ohne Bedenken, immer neue Geschichten zu erfinden, auch wenn sie den vorherigen widersprachen. Um zehn Uhr Waise, beim Mittagessen einziges Kind, konnte er nachmittags vier Schwestern fur sich entdecken, deren eine Eiskunstlaufmeisterin war. Und sein Vater, in Wirklichkeit ein biederer Beamter, wurde mal der Erfinder der Atombombe, mal der Impresario der Beatles oder der verheimlichte Sohn von General de Gaulle. Da Olivier es selbst aufgegeben hatte, Ordnung in sein Gerede zu bringen, dachten wir nicht daran, ihm dessen Haltlosigkeit vorzuwerfen. Wenn er uns eine allzu unverdauliche Fabel auftischte, au?erten wir schon einige Vorbehalte, aber er beteuerte seine Aufrichtigkeit mit einem so emporten »Ich schwor's dir!«, da? man schnell nachgeben mu?te.

Nach dem letzten Stand der Dinge ist Olivier weder Jagdflieger noch Geheimagent, noch Berater eines Emirs, wie er es immer vorhatte. Ganz logischerweise arbeitet er in der Werbung und nutzt sein unerschopfliches Talent als Pillenversu?er.

Es tut mir ein wenig leid, da? ich ihn von oben herab angesehen habe, denn heute beneide ich Olivier um seine Meisterschaft in der Kunst, sich Geschichten zu erzahlen. Ich bin nicht sicher, ob ich je eine solche Leichtigkeit erreichen werde, auch wenn ich selbst schon angefangen habe, mir glorreiche Ersatzschicksale auszudenken. Wenn es mir gerade pa?t, bin ich Formel-1-Fahrer. Sie haben mich sicher auf einer Rennstrecke in Monza oder in Silverstone gesehen. Der geheimnisvolle Rennwagen ohne Marke und ohne Nummer, das bin ich. In meinem Bett, ich meine, in meinem Cockpit liegend, nehme ich die Kurven in vollem Tempo, und mein vom Sturzhelm schwerer Kopf neigt sich schmerzhaft unter der Wirkung der Schwerkraft. Ich spiele auch den kleinen

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