Soldaten in einer Fernsehserie uber die gro?en Schlachten der Geschichte. Ich habe Alesia, Poitiers, Marignan, Austerlitz und den Chemin des Dames mitgemacht. Da ich bei der Landung in der Normandie verwundet wurde, wei? ich noch nicht, ob ich noch einen Sprung nach Dien Bien Phu machen werde. Unter den Handen der Heilgymnastin bin ich ein Au?enseiter der Tour de France am Abend einer Etappe, die zur Legende werden wird. Sie beruhigt meine von der Anstrengung explodierten Muskeln. Ich flog nur so uber den Pa? von Tourmalet. Ich hore noch das Schreien der Menge an der Stra?e zum Gipfel und bei der Abfahrt das Zischen der Luft in den Speichen. Ich habe eine Viertelstunde Vorsprung vor der Spitzengruppe. »Ich schwor's dir!«

»A day in the life«

Nun sind wir fast am Ende des Wegs angelangt, und es bleibt mir nur noch, jenen Freitag, den 8. Dezember 1995 unseligen Angedenkens wachzurufen. Vom Beginn an hatte ich Lust, meine letzten Augenblicke als perfekt funktionierender Erdbewohner zu erzahlen, aber ich habe es so lange aufgeschoben, da? mir jetzt, im Moment des Sprungs zuruck in meine Vergangenheit, schwindlig wird. Ich wei? nicht mehr, wie ich damit anfangen soll, mit diesen bleiernen und nichtigen Stunden, die nicht greifbar sind, wie die Quecksilbertropfen aus einem zerbrochenen Thermometer. Die Worte entziehen sich. Wie soll man den biegsamen, warmen Korper des gro?en dunkelhaarigen Madchens beschreiben, neben dem man zum letzten Mal erwacht, ohne ihn zu beachten, fast murrend. Alles war grau, trube, entsagungsvoll: der Himmel, die Leute, die von mehreren Streiktagen der offentlichen Verkehrsbetriebe erschopfte Stadt. Gleich Millionen anderer Pariser nahmen Florence und ich diesen neuen Tag mit seiner Aussicht auf ein unentwirrbares Chaos mit leerem Blick und abgespanntem Gesicht wie Zombies in Angriff. Automatisch machte ich all diese einfachen Bewegungen, die mir heute wie ein Wunder erscheinen: sich rasieren, sich anziehen, eine Schale Kakao trinken. Seit Wochen hatte ich dieses Datum vereinbart, um das neue Modell einer deutschen Automobilfirma zu testen, deren Importeur mir den ganzen Tag lang einen Wagen mit Fahrer zur Verfugung stellte. Zur verabredeten Zeit wartet ein gestylter junger Mann vor dem Haus, an einen metallic-grauen BMW gelehnt. Durchs Fenster betrachte ich die so schwere, so stattliche gro?e Limousine. Ich frage mich, wie ich mit meiner alten Jeansjacke in dieser Karosse fur leitende Angestellte aussehen werde. Ich lehne die Stirn gegen die Scheibe, um die Kalte zu spuren. Florence streichelt zartlich uber meinen Nacken. Der Abschied ist fluchtig, unsere Lippen beruhren sich kaum. Schon springe ich die Treppe hinunter, deren Stufen nach Wachs riechen. Das wird der letzte Geruch der alten Zeiten sein.

I read the news today, oh boy…

Zwischen zwei apokalyptischen Verkehrsmeldungen bringt das Radio einen Beatles-Song, A day in the life, ich wollte schon schreiben, einen »alten« Beatles-Song, ein echter Pleonasmus, da ihre letzte Aufnahme von 1970 stammt. Der BMW gleitet wie ein fliegender Teppich durch den Bois de Boulogne, ein sanfter, wollustiger Kokon. Mein Chauffeur ist sympathisch. Ich lege ihm meine Plane fur den Nachmittag dar: meinen Sohn bei seiner Mutter, vierzig Kilometer au?erhalb von Paris abholen.

He did not notice that the lights had changed…

Seit ich im Juli meine Familie verlassen habe, hatten Theophile und ich kein wirklich vertrautes Beisammensein, kein Gesprach unter Mannern. Ich habe vor, ihn ins Theater, zu dem neuen Stuck von Arias zu schleppen, dann in einer Brasserie an der Place Clichy ein paar Austern zu essen. Es ist beschlossene Sache, da? wir das Wochenende zusammen verbringen. Ich hoffe nur, der Streik macht keinen Strich durch diese Plane.

I?d like to turn you on…

Ich liebe das Arrangement dieses Stucks, wenn das ganze Orchester sich zum Crescendo steigert bis hin zur Explosion des Schlu?tons. Es hort sich an wie ein Klavier, das aus dem sechzigsten Stock fallt. Jetzt sind wir im Viertel Levallois. Der BMW halt vor der Redaktion an. Ich verabrede mich mit dem Fahrer fur 15 Uhr.

Auf meinem Schreibtisch liegt nur eine Nachricht, aber was fur eine! Ich soll dringend Simone V. zuruckrufen, die fruhere Gesundheitsministerin, die ehemals popularste Frau Frankreichs, die auf Lebenszeit die oberste Stufe des imaginaren Pantheons der Zeitschrift gepachtet hat. Solche Anrufe kommen nie zufallig, und ich erkundige mich erst einmal, was wir gesagt oder getan haben konnten, um eine Reaktion bei dieser fast gottlichen Personlichkeit hervorzurufen. »Ich glaube, sie ist nicht sehr zufrieden mit ihrem Foto in der letzten Nummer.« Meine Assistentin spielt die Sache herunter. Ich sehe mir die besagte Nummer an und finde das inkriminierte Foto, eine Montage, die unser Idol eher lacherlich macht, als da? sie es zur Geltung bringt. Das ist eines der Mysterien unseres Berufs. Man arbeitet wochenlang an einem Thema, es geht wieder und wieder durch die erfahrensten Hande, und keiner sieht den Schnitzer, den ein journalistischer Lehrling nach vierzehn Tagen Praktikum erkennen wurde. Ich lasse einen wahren telefonischen Sturm uber mich ergehen. Da sie der Meinung ist, die Zeitschrift schmiede seit Jahren ein Komplott gegen sie, habe ich die gro?ten Schwierigkeiten, sie davon zu uberzeugen, da? ihr dort im Gegenteil ein regelrechter Kult geweiht wird. Gewohnlich obliegen diese »Retuschen« Anne-Marie, der Redaktionsleiterin, die im Umgang mit Beruhmtheiten die Geduld einer Spitzenklopplerin an den Tag legt, wahrend ich, was die Diplomatie angeht, mehr Ahnlichkeit mit Kapt'n Haddock[5] habe als mit Henry Kissinger. Als wir nach einer Dreiviertelstunde auflegen, habe ich das Gefuhl, nur mehr eine Rolle Teppichboden zu sein.

Obwohl es zum guten Ton gehort, sie »ein bi?chen langweilig« zu finden, wurden die Damen und Herren Chefredakteure um nichts in der Welt eines jener Mittagessen verpassen, die Geronimo, auch Louis XL und von seinen Anhangern Ayatollah genannt, veranstaltet, um »nach dem Stand der Dinge zu sehen«. Dort, in der obersten Etage, im weitlaufigen Speisesaal, der der hochsten Direktion des Verlagshauses vorbehalten ist, verbreitet der gro?e Chef in kleinen Dosen die Zeichen, nach denen man sich die Beliebtheit seiner Untertanen bei ihm ausrechnen kann.

Zwischen der mit samtener Stimme vorgetragenen Huldigung und der schroff wie ein Klauenhieb erteilten Abfuhr verfugt er uber ein ganzes Repertoire von Mimiken, Grimassen und Bartkratzen, das wir im Lauf der Jahre zu entziffern gelernt haben. An dieses letzte Essen erinnere ich mich kaum, au?er da? ich zur Henkersmahlzeit Wasser getrunken habe. Als Hauptgang gab es, glaube ich, Rind. Vielleicht haben wir uns mit dem Rinderwahnsinn infiziert, von dem man damals noch nicht sprach. Da er eine Inkubationszeit von funfzehn Jahren hat, konnen wir es in Ruhe abwarten. Der einzige angekundigte Tod war der Mitterrands, dessen Chronik Paris in Atem hielt.

Wurde er das Wochenende uberleben? Tatsachlich blieb ihm noch ein ganzer Monat. Das wirklich Unangenehme an diesen Essen ist, da? sie kein Ende nehmen. Als ich meinen Fahrer wieder treffe, fallt schon der Abend uber die Glasfassade herein. Um Zeit zu gewinnen, ging ich wie ein Dieb noch einmal in mein Buro, ohne mich von jemandem zu verabschieden. Trotzdem ist es schon nach vier.

»Wir werden in die Klemme geraten.«

»Tut mir leid.«

»Sie haben's auszubaden…« Einen Moment lang habe ich Lust, alles sausenzulassen: im Theater abzusagen, Theophiles Besuch zu verschieben, mich mit einem Becher Quark und einem Kreuzwortratsel unter meinem Federbett zu vergraben. Ich beschlie?e, dem Gefuhl von Niedergeschlagenheit zu widerstehen, das mich an der Gurgel packt.

»Es ware besser, nicht uber die Autobahn zu fahren.«

»Wie Sie wollen…« So stark der BMW auch ist, er bleibt im Gewuhl auf dem Pont de Suresnes hangen. Wir fahren an der Rennbahn von Saint-Cloud entlang, dann am Hopital Raymond-Poincare in Garches. Ich kann dort nicht vorbeifahren, ohne da? mir eine ziemlich gruselige Erinnerung aus meiner Kindheit einfallt. Als Schuler am Lycee Condorcet hatte ich einen Turnlehrer, der mit uns ins Stadion von Vaucresson fuhr, um Freiluftubungen zu machen, die mir verha?ter waren als alles andere. Eines Tages prallte der Bus, der uns transportierte, mit voller Wucht auf einen Mann, der, ohne sich umzuschauen, aus dem Krankenhaus gelaufen kam. Es gab ein komisches Gerausch und eine Vollbremsung. Der Mann war auf der Stelle tot und hinterlie? eine Blutspur auf der Windschutzscheibe des Busses.

Es war ein Winternachmittag wie dieser. Bis man alles aufgenommen hatte, war es Abend geworden. Ein anderer Fahrer brachte uns nach Paris zuruck. Hinten im Bus wurde mit zittrigen Stimmen Penny Lane gesungen. Schon wieder die Beatles. An welche Schlager wird sich Theophile erinnern, wenn er vierundvierzig ist?

Nach eineinhalb Stunden Fahrt kommen wir an dem Haus an, in dem ich zehn Jahre gelebt habe. Nebel

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