»Die Dame auch?«
»Die besten Schweinerippchen meines Lebens«, erklarte die Dame kuhn.
Alfons nickte befriedigt. »Spiele euch jetzt mal meine neue Platte vor. Werdet staunen.«
Er ging zum Grammophon. Die Nadel kratzte, und machtvoll erhob sich ein Mannerchor, der mit gewaltigen Stimmen das »Schweigen im Walde« sang. Es war ein verflucht lautes Schweigen.
Vom ersten Takt an wurde alles im Lokal still. Alfons konnte gefahrlich werden, wenn jemand keine Andacht zeigte. Er stand an der Theke, die haarigen Arme aufgestutzt. Sein Gesicht veranderte sich unter der Macht der Musik. Es wurde traumerisch – so traumerisch, wie eben ein Gorilla werden kann. Chorgesang hatte eine unbeschreibliche Gewalt uber ihn. Er wurde dabei sanft wie ein Rehkitz. Er konnte mitten in einer Schlagerei sein – wenn ein Mannerchor ertonte, lie? er, wie von einem Zauberschlag getroffen, los, horchte und war bereit zur Versohnung. Fruher, als er noch jahzorniger war, hatte seine Frau immer Platten spielfertig liegen, die er besonders liebte. Wenn es dann gefahrlich wurde und er schon mit dem Hammer hinter der Theke hervorkam, setzte sie rasch die Nadel an – und Alfons lie? den Hammer sinken, lauschte und wurde ruhig. Inzwischen war das nicht mehr so notig – die Frau war tot, ihr Bild, ein Geschenk Ferdinand Graus, der dafur hier Freitisch hatte, hing uber der Theke -, und auch Alfons war alter und kalter geworden.
Die Platte lief aus. Alfons kam heran.
»Wunderbar«, sagte ich.
»Besonders der erste Tenor«, erganzte Patrice Hollmann.
»Richtig«, meinte Alfons und wurde zum erstenmal lebhafter,»Sie verstehen was davon! Der erste Tenor ist ganz gro?e Klasse.«
Wir verabschiedeten uns von ihm. »Gru?t Gottfried«, sagte er. »Soll sich mal wieder sehen lassen.«
Wir standen auf der Stra?e. Die Laternen vor dem Hause warfen unruhige Lichter und Schatten nach oben in das Astegewirr eines alten Baumes. Die Zweige hatten schon einen leichten grunen Schimmer, und durch das flackernde, undeutliche Licht von unten erschien der Baum viel machtiger und hoher; er sah aus, als verlore sich die Krone in der Dammerung daruber – wie eine riesige, gespreizte Hand, die in einer ungeheuren Sehnsucht nach dem Himmel griff.
Patrice Hollmann schauerte ein wenig.
»Ist Ihnen kalt?« fragte ich.
Sie zog die Schultern hoch und steckte die Hande in die Armel ihrer Pelzjacke. »Nur einen Augenblick. Es war drinnen ziemlich warm.«-»Sie sind zu leicht angezogen«, sagte ich. »Es ist abends noch kalt.« Sie schuttelte den Kopf. »Ich trage nicht gern schwere Sachen. Und ich mochte, da? es endlich einmal warm wird. Ich mag keine Kalte. Wenigstens nicht in der Stadt.«
»Im Cadillac ist es warm«, sagte ich. »Zur Vorsicht habe ich auch eine Decke mitgebracht.«
Ich half ihr in den Wagen und legte ihr die Decke uber die Knie. Sie zog sie hoher hinauf. »Herrlich! So ist es wunderbar. Kalte macht traurig.«
»Nicht nur Kalte.« Ich setzte mich ans Steuer. »Wollen wir jetzt etwas spazierenfahren?«
Sie nickte. »Gern.«
»Wohin?«
»Einfach so langsam durch die Stra?en. Ganz gleich, wohin.«
»Gut.«
Ich lie? den Motor an, und wir fuhren langsam und planlos durch die Stadt. Es war die Zeit, wo der Abendverkehr am starksten ist. Wir glitten fast unhorbar hindurch, so leise summte die Maschine. Es war, als sei der Wagen ein Schiff, das lautlos uber die bunten Kanale des Lebens trieb. Die Stra?en wehten voruber, die hellen Portale, die Lichter, die Laternenreihen, der su?e, weiche, abendliche Aufruhr des Daseins, das sanfte Fieber der erleuchteten Nacht, und uber allem, zwischen den Dacherrandern, der eisengraue, gro?e Himmel, gegen den die Stadt ihr Licht warf.
Das Madchen sa? schweigend neben mir; Helligkeit und Schatten glitten durch das Fenster uber ihr Gesicht. Ich sah manchmal zu ihr hinuber; sie erinnerte mich jetzt wieder an den Abend, wo ich sie zum erstenmal gesehen hatte. Ihr Gesicht war ernster geworden, es erschien fremder als vorher, aber sehr schon – es war das Gesicht, das mich damals angeruhrt und nicht losgelassen hatte. Mir schien, als ware etwas von dem Geheimnis der Stille darin, das die Dinge haben, die der Natur nahe sind – Baume, Wolken, Tiere – und manchmal eine Frau.
Wir kamen in die ruhigen Stra?en der Vororte. Der Wind wurde starker. Er schien die Nacht vor sich her zu treiben. An einem gro?en Platz, um den rundherum kleine Hauser in kleinen Garten schliefen, hielt ich den Wagen an.
Patrice Hollmann machte eine Bewegung, als erwache sie.
»Schon ist das«, sagte sie nach einer Weile. »Wenn ich einen Wagen hatte, wurde ich jeden Abend so langsam herumfahren. Es hat etwas Unwirkliches, so lautlos uberall voruberzugleiten.
Man ist wach und traumt zur selben Zeit. Ich kann mir denken, da? man keine Menschen mehr brauchte, abends…«
Ich zog ein Packchen Zigaretten aus der Tasche. »Abends braucht man welche, was?«
Sie nickte. »Abends schon. Das ist eine sonderbare Sache, wenn es dunkel wird.«
Ich ri? das Packchen auf. »Es sind amerikanische Zigaretten. Mogen Sie die?«
»Ja. Lieber als andere sogar.«
Ich gab ihr Feuer. Einen Augenblick beleuchtete das warme, nahe Licht des Streichholzes ihr Gesicht und meine Hande, und ich hatte plotzlich den verruckten Gedanken, als gehorten wir seit langem zusammen.
Ich drehte das Fenster herunter, damit der Rauch abziehen konnte.
»Wollen Sie jetzt etwas fahren?« fragte ich. »Es macht Ihnen doch sicher Spa?.«
Sie wendete sich mir zu. »Ich mochte schon; aber ich kann es nicht.«
»Wirklich nicht?«
»Nein. Ich habe es nie gelernt.«
Ich sah meine Chance. »Das hatte Binding Ihnen doch langst zeigen konnen«, sagte ich.
Sie lachte. »Binding ist viel zu verliebt in seinen Wagen. Der la?t niemand heran.«
»Das ist ja albern«, erklarte ich, vergnugt, dem Dicken eins auswischen zu konnen. »Ich lasse Sie ohne weiteres fahren. Kommen Sie.«
Ich schlug alle Mahnungen Kosters in den Wind und stieg aus, um sie ans Steuer zu lassen. Sie wurde aufgeregt. »Aber ich kann wirklich nicht fahren.«»Doch«, erwiderte ich. »Sie konnen es. Sie wissen es nur noch nicht.« Ich zeigte ihr, wie man schaltet und kuppelt. »So«, sagte ich dann,»und nun mal los!«»Einen Moment!« Sie zeigte auf einen Omnibus, der einsam die Stra?e entlangschlich. »Wollen wir den nicht erst vorbeilassen?«»Auf keinen Fall!« Ich schaltete rasch und lie? die Kupplung ein. Sie hielt das Steuerrad krampfhaft fest und sah angespannt uber die Stra?e. »Mein Gott, wir fahren ja viel zu schnell!« Ich blickte auf den Tachometer. »Sie fahren jetzt genau funfundzwanzig Kilometer. Das sind in Wirklichkeit zwanzig. Gutes Tempo fur einen Langstreckenlaufer.«»Mir kommt's vor wie achtzig.« Nach ein paar Minuten war die erste Angst uberwunden.
Wir fuhren eine breite, gerade Stra?e hinunter. Der Cadillac torkelte ein bi?chen hin und her, als ob er statt Benzin Kognak im Tank hatte, und manchmal streifte er verdachtig nahe die Bordschwelle – aber allmahlich ging es ganz gut, und es wurde so, wie ich es mir gedacht hatte: Ich bekam Ubergewicht, weil wir plotzlich Lehrer und Schuler geworden waren, und das nutzte ich aus.
»Achtung«, sagte ich,»druben steht ein Polizist!«
»Soll ich anhalten?«
»Dazu ist es jetzt zu spat.«
»Und was passiert, wenn er mich erwischt? Ich habe doch keinen Fuhrerschein.«»Dann kommen wir beide ins Gefangnis.«
»Um Gottes willen!« Sie suchte erschreckt mit dem Fu? die Bremse.
»Gas!« rief ich. »Gas! Feste drauftreten! Wir mussen stolz und schnell vorbei. Das beste Mittel gegen das Gesetz ist Frechheit.«
Der Polizist beachtete uns gar nicht. Das Madchen atmete auf. »Ich wu?te bis jetzt noch gar nicht, da? Verkehrspolizisten aussehen konnen wie feuerspeiende Drachen«, sagte sie, als wir ihn ein paar hundert Meter