»Ruhe!« unterbrach Neubauer sie. »Wer hat das gesagt?«

»Drau?en, die Leute -«

»Wer?« Neubauer trat einen Schritt vor. »Staatsfeindliche Reden! Wer hat das gesagt?«

Das Madchen wich zuruck. »Drau?en – ich nicht – jemand – alle -«

»Verrater! Lumpen!« Neubauer tobte. Er konnte die aufgespeicherte Spannung endlich auslassen.

»Bande! Schweine! Meckerer! Und Sie? Was haben Sie drau?en zu tun?«

»Ich – nichts -«

»Weggerannt vom Dienst, was? Weitertratschen von Lugen und Greuelnachrichten!

Wir werden das schon noch herausfinden! Durchgegriffen mu? hier werden!

Verdammt scharf durchgegriffen! Marsch, in die Kuche!«

Das Madchen lief hinaus. Neubauer schnaufte und schlo? das Fenster. Nichts passiert, dachte er.

Im Keller sind sie, naturlich. Hatte ich mir gleich denken konnen.

Er holte eine Zigarre hervor und zundete sie an. Dann zog er seinen Rock glatt, wolbte die Brust, sah in den Spiegel und ging hinunter.

Seine Frau und seine Tochter sa?en dicht nebeneinander auf einer Chaiselongue, die an der Wand stand. Uber ihnen hing in breitem Goldrahmen ein mehrfarbiges Bild des Fuhrers.

Der Keller war 1940 als Luftschutzkeller hergerichtet worden. Neubauer hatte ihn damals nur aus Reprasentationsrucksichten bauen lassen; es gehorte zum Patriotismus, in diesen Dingen mit gutem Beispiel voranzugehen. Niemand hatte je im Ernst daran gedacht, da? Deutschland bombardiert werden konne. Die Erklarung Gorings, man moge ihn fortan Meier nennen, wenn feindliche Flugzeuge so etwas im Angesicht der Luftwaffe fertig brachten, war jedem ehrlichen Deutschen genug gewesen. Leider war es anders gekommen. Ein typisches Beispiel fur die Heimtucke der Plutokraten und Juden: sich schwacher zu stellen, als sie waren,»Bruno!« Selma Neubauer erhob sich und begann zu schluchzen.

Sie war blond und fett und trug einen Morgenrock aus lachsfarbener franzosischer Seide mit Spitzen. Neubauer hatte ihn ihr 1941 von einem Urlaub aus Paris mitgebracht. Ihre Backen zitterten, und ihr zu kleiner Mund kaute an Worten.

»Es ist vorbei, Selma. Beruhige dich.«

»Vorbei -« sie kaute weiter, als waren die Worte zu gro?e Konigsberger Klopse.

»Fur wie – wie lange?«

»Fur immer. Sie sind weg. Der Angriff ist abgeschlagen. Sie kommen nicht wieder.«

Selma Neubauer hielt ihren Morgenrock uber der Brust fest. »Wer sagt das, Bruno?

Woher wei?t du das?«

»Wir haben mindestens die Halfte abgeschossen. Die werden sich huten, wiederzukommen.«

»Woher wei?t du das?«

»Ich wei? es. Sie haben uns diesmal uberrascht. Das nachstemal werden wir ganz anders auf dem Posten sein.«

Die Frau horte auf zu kauen. »Das ist alles?« fragte sie. »Das ist alles, was du uns sagen kannst?«

Neubauer wu?te, da? es nichts war. »Ist es nicht genug?« fragte er deshalb barsch zuruck.

Seine Frau starrte ihn an. Ihre Augen waren wasserig und hellblau. »Nein!« kreischte sie plotzlich.

»Das ist nicht genug! Das ist nichts als Quatsch! Es hei?t gar nichts!

Was haben wir nicht alles schon gehort? Erst erzahlt man uns, wir waren so stark, da? nie ein feindlicher Flieger nach Deutschland hereinkame, und auf einmal kommen sie doch. Dann hei?t es, sie kamen nicht wieder, wir schossen sie von nun an alle an den Grenzen ab, und statt dessen kommen zehnmal so viele zuruck, und der Alarm geht andauernd. Und jetzt haben sie uns schlie?lich hier auch erwischt, und da kommst du gro?artig und sagst, sie wurden nicht wiederkommen, wir wurden sie schon kriegen! Und das soll ein vernunftiger Mensch glauben?«

»Selma!« Neubauer warf unwillkurlich einen Blick auf das Bild des Fuhrers. Dann sprang er zur Tur und warf sie zu. »Verdammt! Nimm dich zusammen!« zischte er.

»Willst du uns alle ins Ungluck bringen? Bist du verruckt geworden, so zu schreien?«

Er stand dicht vor ihr. Uber ihren dicken Schultern blickte der Fuhrer weiter kuhn in die Landschaft von Berchtesgaden. Neubauer hatte einen Augenblick fast geglaubt, er hatte alles mit angehort.

Selma sah den Fuhrer nicht. »Verruckt?« kreischte sie. »Wer ist verruckt? Ich nicht.

Wir hatten ein wunderbares Leben vor dem Kriege – und jetzt? Jetzt? Ich mochte wissen, wer da verruckt ist?«

Neubauer ergriff mit beiden Handen ihre Arme und schuttelte sie so, da? ihr Kopf hin- und herflog und sie nicht mehr schreien konnte. Ihr Haar loste sich, ein paar Kamme fielen heraus, sie verschluckte sich und hustete. Er lie? sie frei. Sie fiel wie ein Sack auf die Chaiselongue. »Was ist mit ihr los?« fragte er seine Tochter.

»Nichts weiter. Mutter ist sehr aufgeregt.«

»Warum? Es ist doch nichts passiert.«

»Nichts passiert?« begann die Frau wieder. »Dir naturlich nicht, da oben! Aber wir hier allein -«

»Ruhig! Verdammt! Nicht so laut! Habe ich dafur funfzehn Jahre geschuftet, damit du mit deinem Geschrei alles auf einen Schlag wieder vernichtest? Meinst du, es warten nicht schon genug darauf, meinen Posten zu schnappen?«

»Es war das erste Bombardement, Vater«, sagte Freya Neubauer ruhig. »Bisher haben wir doch nur Alarme gehabt. Mutter wird sich schon gewohnen.«

»Das erste? Naturlich das erste! Wir sollten froh sein, da? bisher noch nichts passiert ist, anstatt Unsinn zu schreien.«

»Mutter ist nervos. Sie wird sich schon gewohnen.«

»Nervos!« Neubauer war irritiert durch die Ruhe seiner Tochter. »Wer ist nicht nervos? Meinst du, ich bin nicht nervos? Man mu? sich beherrschen konnen. Was wurde sonst passieren?«

»Dasselbe!« Seine Frau lachte. Sie lag auf der Chaiselongue, die plumpen Beine gespreizt. Ihre Fu?e steckten in rosa Seidenschuhen. Sie hielt Rosa und Seide fur sehr elegant. »Nervos!

Gewohnen! Du kannst gut reden!«

»Ich? Wieso?«

»Dir passiert nichts.«

»Was?«

»Dir passiert nichts. Aber wir sitzen hier in der Falle.«

»Das ist ja bluhender Unsinn! Einer ist wie der andere. Wieso kann mir denn nichts passieren?«

»Du bist sicher, da oben in deinem Lager!«

»Was?« Neubauer warf seine Zigarre zu Boden und trampelte darauf. »Wir haben nicht solche Keller wie ihr hier.« Es war gelogen.

»Weil ihr keine braucht. Ihr seid au?erhalb der Stadt.«

»Als ob das was ausmachte! Wo eine Bombe hinfallt, da fallt sie hin.«

»Das Lager wird nicht bombardiert werden.«

»So? Das ist ja ganz neu. Woher wei?t du denn das? Haben die Amerikaner eine Nachricht daruber abgeworfen? Oder dir speziell Bescheid gesagt?«

Neubauer sah auf seine Tochter. Er erwartete Beifall fur diesen Witz. Aber Freya zupfte an den Fransen einer Pluschdecke, die uber den Tisch neben der Chaiselongue gebreitet war. Dafur antwortete seine Frau. »Sie werden ihre eigenen Leute nicht bombardieren.«

»Quatsch! Wir haben gar keine Amerikaner da. Auch keine Englander. Nur Russen, Polen, Balkangesindel und deutsche Vaterlandsfeinde, Juden, Verrater und Verbrecher.«

»Sie werden keine Russen und Polen und Juden bombardieren«, erklarte Selma mit stumpfem Eigensinn.

Neubauer drehte sich scharf um. »Du wei?t ja eine ganze Menge«, sagte er leise und sehr wutend.

»Aber jetzt will ich dir einmal etwas sagen. Die wissen uberhaupt nicht, was fur ein Lager da oben ist, verstanden? Sie sehen nur Baracken. Sie konnen sie glatt fur Militarbaracken halten. Sie sehen Kasernen. Das sind unsere SS-Kasernen.

Sie sehen die Gebaude, in denen die Leute arbeiten. Das sind fur sie Fabriken und Ziele. Da oben ist es hundertmal gefahrlicher als hier. Deshalb wollte ich nicht, da? ihr da wohnt. Hier unten sind keine Kasernen und

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