Viktorianischer Kinderreim, 1887
H. P. Lovecraft,
1. Fortyfoot House
Kurz vor Sonnenaufgang wurde ich von einem verstohlenen, schlurfenden Gerausch aus dem Schlaf gerissen. Ich lag da und lauschte. Schlurf. Dann wieder. Schlurf, schlurf, schlurf. Anschlie?end Stille.
Die dunnen mit Blumenmustern verzierten Vorhange vor dem Fenster wurden von einer schwachen Brise bewegt, die auch die Fransen des Lampenschirms zucken lie? wie die Beine eines von der Decke herabhangenden Tausendfu?lers. Ich lauschte, so intensiv ich nur konnte, aber ich vernahm nur die rauschende See und das geschwatzige Flustern der Eichen.
Wieder ein Schlurfen. Diesmal aber so weit entfernt und so schnell, dass es alles Mogliche hatte sein konnen, vielleicht ein Eichhornchen auf dem Dachboden oder eine Schwalbe unter dem Dachgiebel.
Ich drehte mich um und vergrub mich tief in die glatte Satinbettwasche. In fremden Hausern schlafe ich immer schlecht - seit Janie mich verlassen hatte, schlief ich nirgends mehr gut. Nach der gestrigen Fahrt von Brighton, nach dem Ubersetzen von Portsmouth hierher und nach einem ganzen Nachmittag, den ich damit verbrachte, Koffer auszupacken, war ich todmude.
Danny war in der Nacht auch zweimal aufgewacht. Zuerst, weil er Durst hatte, und spater, weil er sich furchtete. Er sagte, er habe irgendetwas auf der anderen Seite seines Schlafzimmers gesehen, etwas Zusammengekauertes und Dunkles, aber es waren nur seine Kleider gewesen, die uber der Stuhllehne hingen.
Mir fielen die Augen zu, aber ich konnte nicht einschlafen, so sehr ich auch wollte. Ich hatte alles dafur gegeben, eine Nacht, einen Tag und, ja, noch eine Nacht einfach nur durch—
zuschlafen. Ich doste nur, und einen Moment lang traumte ich, dass ich wieder in Brighton war, dass ich unter einem grauen Himmel durch die Stra?en von Preston Park ging, entlang an Terrassen aus roten Ziegelsteinen. Ich traumte, dass ich jemanden aus meiner Parterrewohnung eilen sah, eine gro?e mannliche Gestalt mit langen Beinen, die mir ihr spitzes wei?es Gesicht zuwandte und mich anstarrte, um dann davonzurennen. >Der Schneider aus dem Struwwelpeter, der dem Daumenlutscher die Daumen abschneidet<, schoss es mir durch den Kopf. >Es gibt ihn wirklich.<
Ich versuchte, ihm nachzulaufen, aber auf irgendeine Weise hatte er es geschafft, auf die andere Seite des Zauns zu gelangen, der sich um den Park zog. Blassgraues Gras, Pfaue, die wie misshandelte Kinder schrien. Ich konnte nichts anderes machen, als auf meiner Seite des Zauns neben ihm herzulaufen und darauf zu hoffen, dass er immer noch in Sichtweite sein wurde, wenn ich endlich ein Tor erreichte.
Mein Atem drohnte wie Donner in meinen Ohren. Meine Fu?e klatschten wie die eines Clowns auf dem geteerten Weg. Ich sah aufgeblasene Gesichter, wei?e Ballons mit menschlichem Antlitz, die mich angrinsten. Und ich horte ein kratzendes, schlurfendes Gerausch, so als ware ein Hund dicht hinter mir, dessen Pfoten auf dem Asphalt ein leises Klicken verursachten. Ich drehte mich um, und mit einem Mal war ich wach. Ich horte ein wildes, larmendes Umhereilen, viel lauter als von einem Eichhornchen oder einem Vogel.
Ich befreite mich aus der Decke und setzte mich auf. Die Nacht war hei? gewesen, und meine Laken waren zerknittert und schwei?getrankt. Ein weiteres schwaches, zogerliches Kratzen war zu horen, dann herrschte wieder Stille.
Ich nahm meine Uhr vom Nachttisch. Es war noch nicht hell, aber das wenige Licht genugte, um zu sehen, dass es 5.05 Uhr war. Jesus!
Ich schleppte mich aus dem Bett und ging hinuber zum Fenster und zog die Vorhange auf. Der Himmel war so wei? wie Milch, und hinter den Eichen zeigte sich auch die See in einer milchig wei?en Farbung. Das Fenster meines Schlafzimmers war nach Suden ausgerichtet. Von hier konnte ich den gro?ten Teil des zur See hin abfallenden Gartens sehen, die vernachlassigten Rosenbeete, die Sonnenuhr, dahinter die Stufen, die hinunterfuhrten zum Fischteich, und den Weg, der danach im Zickzack zwischen den Baumen bis zum hinteren Gartentor verlief.
Danny hatte bereits herausgefunden, dass es von diesem Gartentor bis zur Kuste nur ein kurzer, steil abfallender Spaziergang war, der an einer Reihe hubscher kleiner Cottages mit Blumenkasten voller Geranien auf jeder Fensterbank entlangfuhrte. Am Strand: Steine, eine schaumige Brandung, an Land getriebener Tang und ein kuhler salziger Wind, der von Frankreich herubergeweht kam. Wir waren am Abend zuvor dort hinabgestiegen, hatten uns dann den Sonnenuntergang angesehen und mit einem Fischer aus dem Dorf gesprochen, der Schollen und Heilbutt fing.
Weiter links vom Garten, am anderen Ufer eines schmalen uberwucherten Bachs, stand eine zerfallene Steinmauer, dick mit Moos uberzogen. Von der Mauer fast vollig verdeckt wurden sechzig bis siebzig Grabsteine - Kreuze und weinende Engel - und eine kleine gotische Kapelle, deren Fenster kein Glas mehr aufwiesen und deren Dach vor langer Zeit eingesturzt war.
Laut Mr. und Mrs. Tarrant hatte die Kapelle einst Fortyfoot House und dem Dorf Bonchurch gedient, doch mittlerweile fuhren die Bewohner zum Gottesdienst nach Ventnor, falls sie sich uberhaupt irgendwohin in eine Kirche begaben. Fortyfoot House stand leer, seit die Tarrants ihr Fliesengeschaft verkauft hatten und nach Mallorca ausgewandert waren.
Ich fand den Friedhof nicht besonders unheimlich, eher traurig, weil man ihn so hatte verkommen lassen. Hinter der Kapelle erhoben sich die dunklen, einer Zirruswolke ahnlichen Umrisse einer riesigen uralten Zeder, einer der
gro?ten, die ich je gesehen hatte. Etwas an diesem Baum verlieh der Landschaft eine Aura der Erschopfung und des Bedauerns, dass es nie wieder so sein wurde wie fruher. Aber irgendwie verlieh er auch eine Aura der Kontinuitat.
Um diese Zeit am fruhen Morgen war der Garten so farblos wie alles andere auch. Fortyfoot House sah so aus wie auf dem alten Schwarzwei?foto von 1888, das im Flur hing. Das Bild zeigte einen Mann, der mit einem schwarzen Zylinder und einem schwarzen Frack im Garten stand. Mir war, als konnte er jeden Augenblick zuruckkehren, genau so, wie er dort zu sehen war, farblos, streng, mit einem Backenbart und den Blick starr auf mich gerichtet.
Ich konnte mir eigentlich einen Kaffee machen; sinnlos, zu versuchen, noch etwas langer zu schlafen. Die Vogel hatten zu zwitschern begonnen, und die Finsternis zog sich so rasch zuruck, dass ich schon die schlaffen Tennisnetze auf der anderen Seite des Rosengartens, das mit Flechten uberzogene Gewachshaus und die verwilderten Erdbeerbeete erkennen konnte, die im Westen an Fortyfoot House grenzten.
»Ich hoffe, dass es Ihnen Spa? macht, Mr. Williams, Ordnung im volligen Chaos zu schaffen«, hatte mich Mrs. Tarrant gefragt und durch ihre kleine Sonnenbrille auf ihren Garten geblickt. Ich hatte den Eindruck