heute Nachmittag nach Shanklin Village fahren, um mit einem Rattenfanger zu reden. Oder mit einem Schadlingsbekampfers wie man heute so schon sagt.«

»Darf ich mitkommen?«

»Mir ware es lieber, wenn du auf Danny aufpassen konntest. Oder wurde dir das was ausmachen?«

Liz schuttelte lachelnd den Kopf. »Liebend gerne. Er ist su?. Er hat mich gefragt, ob ich dich liebe. Ich glaube, wir werden sehr gut miteinander auskommen.«

»Hast du jungere Geschwister?«

Das Lacheln wich aus ihrem Gesicht, wahrend sie ihr Haar zuruckstrich. »Ich hatte einen jungeren Bruder. Marty hie? er. Aber es brach ein Feuer aus. Ein alter Ofen sturzte um, und er verbrannte. Er war gerade vier Jahre alt. Meine Eltern sind daruber fast verruckt geworden.«

»Das tut mir Leid«, sagte ich so sanft ich konnte.

Sie verzog den Mund. »Es ist nicht mehr zu andern.«

»Was haltst du von der Geschichte, die uns Doris aufgetischt hat?«, wechselte ich das Thema.

»Uber den alten und den jungen Mr. Billings? Das fand ich toll. Aber solche Geschichten hort man immer uber alte Hauser. Bei uns in der Stra?e gab es auch so ein Haus ... >The Laurels< hie? es. Die alte Frau, die dort gelebt hatte, war an Krebs gestorben, und wir Kinder glaubten alle, dass man ihr Gesicht immer noch sehen konne. An eines der oberen Fenster gepresst, ganz blass, mit wei?en Haaren, wahrend sie schrie, dass wir Kinder aus ihrem Garten verschwinden sollten. So, wie sie es immer gemacht hatte, als sie noch am Leben gewesen war. Blo? dass man sie hinter dem Fenster nicht horen konnte. Wir haben uns vor Angst verruckt gemacht.«

»Heute Morgen habe ich jemanden gesehen. Ich sah durch das Fenster der Kapelle hierher, und da stand jemand auf der Wiese, exakt hier.«

Liz schloss die Augen. »Komm schon, David. Das kann doch jeder gewesen sein.«

Es war schon zu horen, wie jemand meinen Namen aussprach. Das ist der einzige Luxus, der einem wirklich fehlt, wenn man allein ist.

Danny nannte mich immer >Daddy<, und >Daddy< war ja auch in Ordnung. Aber nichts war so gut wie Liz, wenn sie >David< zu mir sagte.

»Ich mache mich jetzt besser auf den Weg«, sagte ich zu ihr. »Und danke fur die Sandwiches.«

Sie lie? sich wieder auf den alten braunen Vorhang sinken und sah mich mit zugekniffenen Augen an. »War mir ein Vergnugen, Monsieur. Was mochtest du zum Abendessen?«

»Wie war's mit dem Chili, von dem du gesprochen hast?«

»Gerne. Kannst du eine Dose Kidneybohnen holen? Und Kummel und Chilipulver?«

»Sonst noch was? Etwas Fleisch ware doch auch nicht verkehrt, oder?«

Sie lachte. Wenn ich heute zuruckblicke, dann glaube ich, dass es dieses Lachen gewesen ist, das mich dazu bewegte, meine Liebe zu Janie aufzugeben. Es gab auch noch andere Frauen auf der Welt. Vielleicht nicht unbedingt Liz, sondern andere Frauen, die lachen konnten und die liebenswurdig waren. Und die sich vielleicht auch um Danny kummern wollten.

»Gehacktes«, sagte sie. »Nicht zu fett.«

Ich ging durch den Garten zum Haus zuruck und bemerkte dabei eine fahle Gestalt hinter einem der Fenster im Obergeschoss. Eine fahle Gestalt, die mich beobachtete.

Ich weigerte mich, den Kopf zu heben und diese Gestalt anzusehen. Was Fortyfoot House notig hatte, war eine gehorige Portion Skepsis - ein Verneinen durch geistig gesunde und sensible Menschen, dass Manner in Frack und hohem Zylinder umherlaufen, wenn sie seit hundert Jahren tot sind, ein Verneinen, dass haarige kichernde Dinge sich auf dem Speicher tummeln oder dass fahle Gesichter durch die Fenster starren.

Was mich anging, war Fortyfoot House nichts weiter als ein Wirrwarr aus Vorwurfen und Erinnerungen und Halluzinationen. Vielleicht war es nicht der geeignetste Platz fur mich, wenn man meine Trennung von Janie und meine recht instabile Verfassung berucksichtigte. Aber da gab es nichts Boses oder Verfluchtes. Ich glaubte nicht an das »Bose«, nicht um seiner selbst willen. Und ich glaubte auch nicht an

Gespenster. Ich hatte gesehen, wie mein Vater in seinem Sarg zu den Klangen von The Old Rugged Cross hinter den roten Vorhangen des Worthing-Krematoriums verschwunden war. Und obwohl ich zu Gott gebetet hatte, er moge ihn auferstehen lassen, hatte ich ihn seitdem nirgends entdecken konnen. Ich war ihm nicht in der Bibliothek von Brighton begegnet und ich hatte ihn nicht mit seinem Bullterrier am Strand entdeckt, wo er immer spazieren gegangen war. Quod erat demonstrandum, dachte ich. Jedenfalls traf das auf mich zu.

Wahrend ich aber im Schein der Sonne, die geradewegs aus 12 Uhr mittags hatte stammen konnen, die Stufen der Veranda hinaufging, sah ich kurz nach oben. Das blasse Ding war noch immer da. Spiegelte sich dort etwas? War es ein Vorhang?

Ich betrat das Haus und nahm meine Brieftasche und die Schlussel. Dabei kam ich mir vor wie ein Eindringling, fast schon wie ein Einbrecher. Meine Schritte klangen unnaturlich laut und zaghaft. Fortyfoot House gehorte einem anderen, aber nicht mir oder Danny. Es gehorte nicht mal den Tarranis.

Ich sah mich um, wahrend ich den Staub und die Feuchtigkeit und den Geruch von Schimmelpilzen im Keller einatmete.

»Hallo?«, rief ich. Dann noch einmal, aber lauter: »Hallo?«

Keine Antwort. Ich sprach ein kurzes Gebet, das mir in der Sonntagsschule von Miss Harpole beigebracht worden war, der Lehrerin mit ihrem Dutt wie Olivia Ol und ihrer blinden Brille.

»Jesus, schutz mich vor den Klauen der Dinge aus der Tiefe Grauen. Jesus, schutz, wenn ich nicht wach, mich vor der Holle Drach'.«

Das Gebet ging noch weiter, aber ich konnte und wollte mich nicht mehr daran erinnern. Um ehrlich zu sein, hatte es mir damals eine Hollenangst verursacht. Die normalen Albtraume waren fur einen Funfjahrigen schon schlimm genug, ohne dass ihm eine Miss Harpole noch erzahlen musste, die Schatten unter seinem Bett wollten ihn in Stucke rei?en.

Ich verlie? das Haus, ohne die Vordertur hinter mir zuzuziehen. Ich war sicher, dass ich ein schrilles Kratzen horte, das von einem der Fenster im Obergeschoss kam, doch ich ging unbeirrt weiter zum Wagen und weigerte mich, einen Blick zuruckzuwerfen.

Ich startete den Motor. Mein verschossener bronzefarbener Audi war elf Jahre alt und wieherte wie ein Pferd, bis er ansprang. Bevor ich die Handbremse loste, fasste ich genug Mut, um zum Haus zu sehen. Aber au?er dunklen Fenstern und einem sonderbar winkligen Dach war da nichts. Ich wartete noch einen Moment langer, dann lenkte ich den Audi hinauf zur Stra?e.

Ich schaltete das Radio ein, wahrend ich durch die engen schattigen Stra?en fuhr, die nach Shanklin Village fuhrten. Cat Stevens sang >I'm being followed by a moonshadow<, und ich stimmte ein: »Moonshadow ... moonshadow!«

Die Sonne blitzte grell zwischen den Blattern hindurch.

Der Rattenfanger lebte in einem kleinen blendend wei?en Cottage am Rande von Shanklin Old Village. Im Garten bluhten uberall rote und gelbe Chrysanthemen und leuchtende Geranien, und er war voll gestellt mit braun lackierten Betoneichhornchen mit Bernsteinaugen, mit Betongartenzwergen, Beton-Katzen, einer Miniaturwindmuhle, einem Miniaturwunschbrunnen, einem Schloss und einem Betonspaniel.

Seine Frau sa? auf der Veranda in einem Liegestuhl und strickte an etwas Braunem, Konturlosem. Eine korpulente Frau mit rosafarbenen Plastiklockenwicklern und in einem Baumwollkleid, das uber und uber mit Ankern bedruckt war. Auf den Fliesen neben ihrem Stuhl standen eine leere Teetasse und ein Tablett mit Biskuits. Ich stand am Gartentor und sah in den Garten, der so klein war, dass ich mich fast hatte vorbeugen und ihr das Strickzeug aus der Hand nehmen konnen. Sie schaute auf und sagte: »Ja?«, als habe sie mich nicht kommen sehen.

»Ich suche Harry Martin.« »Ach ja? Und wer sucht ihn?«

»Der Landrat sagt, dass er noch immer Ratten fangt.«

»Ach ja? Er ist im Ruhestand.«

»Ist er zu Hause?«

»Er macht sein Nickerchen.«

»Bitte?«

»Seinen Mittagsschlaf. Er ist siebenundsechzig, er braucht das.«

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