die Schnauze voll, dann höre ich damit auf.«

»Ist doch nicht schlimm, wenn man mal ein Anderer sein will«, ließ ich einen Probeballon los.

»Wirklich ein anderer zu sein ist schwer«, erwiderte Lass. »Vor ein paar Tagen habe ich gedacht…«

Abermals merkte ich auf. Der Brief war vor zwei Tagen abgeschickt worden. So glatt konnte sich doch nicht alles auflösen?

»Ich war im Krankenhaus, während der Sprechstunde dort. Da habe ich alle Preislisten studiert«, fuhr Lass fort, nichts Böses ahnend. »Bei denen ist alles ganz seriös. Titanprothesen als Ersatz für verlorene Extremitäten. Schenkelknochen, Kniegelenke, Hüftgelenke, Kiefer… Der Preis für einen Schädel anstelle der eingebüßten Knochen, der Zähne und anderer Kleinigkeiten… Ich hab meinen Taschenrechner rausgeholt und berechnet, wie viel es kostet, sich sämtliche Knochen ersetzen zu lassen. Eine Million siebenhunderttausend Dollar. Allerdings vermute ich, dass man bei einem derartigen Großauftrag einen hübschen Rabatt bekommt. Zwanzig, dreißig Prozent. Und wenn du die Ärzte noch überzeugen kannst, dass das gute Reklame ist, brauchst du nicht mehr als eine halbe Million hinzublättern!«

»Wozu?«, fragte ich. Dank dem Friseur konnten sich mir die Haare nicht mehr sträuben - es war einfach nichts mehr da.

»Das ist doch interessant!«, erklärte Lass. »Stell dir vor, du musst einen Nagel einhauen! Du holst aus und schlägst mit der Faust auf den Nagel! Der dringt in den Beton ein! Titanknochen! Oder jemand versucht, dich zu verprügeln… Sicher, es gibt noch einige Mängel. Auch mit den künstlichen Organen steht es nicht gut. Aber die Richtung, in die der Fortschritt geht, freut mich.«Er goss uns noch einmal ein.

»Ich glaube, der Fortschritt geht in eine andre Richtung«, versuchte ich meine Taktik zu ändern. »Man müsste die Möglichkeiten des Organismus besser nutzen. Was in uns steckt, ist doch ganz erstaunlich! Telekinese, Telepathie…«

Lass setzte eine bedripste Miene auf. So gucke ich auch aus der Wäsche - wenn ich es mit einem Idioten zu tun habe. »Kannst du meine Gedanken lesen?«, fragte er. »Jetzt nicht«, gab ich zu.

»Ich glaube, wir brauchen hier keine neuen Fähigkeiten zu ersinnen«, erklärte Lass. »Alles, was der Mensch kann, ist seit langem bekannt. Wenn die Menschen Gedanken lesen, levitieren und ähnlichen Unsinn vollbringen könnten, wäre das längst bewiesen.«

»Wenn ein Mensch plötzlich solche Fähigkeiten besitzt, wird er sie vor seiner Umwelt verbergen«, entgegnete ich und beobachtete Lass durchs Zwielicht. »Wenn er wirklich so etwas wie ein Anderer wäre, würde er den Neid und die Furcht seiner Umwelt heraufbeschwören.«Lass ließ nicht die geringste Nervosität erkennen. Nur Skepsis.

»Aber würde dieser Wunderknabe nicht dafür sorgen wollen, dass seine geliebte Frau und die Kinder die gleichen Fähigkeiten hätten? Mit der Zeit würden sie uns als biologische Art verdrängen.«

»Und wenn diese besonderen Fähigkeiten nicht vererbt werden könnten?«, fragte ich. »Oder nicht unbedingt. Oder wenn es unmöglich wäre, sie einem andern zu vermitteln? Dann würden die Menschen und die Anderen unabhängig voneinander existieren. Wenn es nicht viele dieser Anderen gibt, würden sie sich vor ihrer Umwelt verstecken…«

»Ich glaube, du meinst eine zufällige Mutation, die zu übersinnlichen Fähigkeiten führt«, vermutete Lass. »Doch wenn diese Mutation zufällig und rezessiv ist, braucht sie uns nicht zu interessieren. Aber die Titanknochen kann man sich schon heute einsetzen lassen! »

»Na toll!«, schnaubte ich.

Wir tranken auf ex. »Trotz allem hat unsere Situation was!«, meinte Lass verträumt. »Ein riesiges leeres Haus! Hundert Wohnungen, und nur neun Leute, die hier wohnen… wenn du dich dazurechnest. Was könnte man hier nicht alles machen! Da bleibt dir die Spucke weg! Was für einen Film könnte man hier drehen! Oder stell dir mal einen Videoclip vor: ein luxuriöses Interieur, leere Restaurants, tote Waschsalons, rostende Fitnessgeräte und kalte Saunen, leere Schwimmbecken und unter einer Decke dahinvegetierende Tische im Casino. Durch all diese Pracht schlendert eine junge Frau. Schlendert und singt. Egal was. »

»Drehst du Clips?«, hakte ich nach.

»Nö…«Lass runzelte die Stirn. »Na ja… einmal habe ich einer bekannten Punkgruppe geholfen, ein Video zu machen. Erst wurde es auf MTV gezeigt, dann aber verboten. »

»Was war denn an dem so schrecklich?«

»Nichts weiter«, sagte Lass. »Ein stinknormales Lied, nichts, was zensiert werden müsste. Es ging sogar um Liebe. Das Video war komisch. Wir haben es in einem Krankenhaus für Personen mit Störungen im Bewegungsapparat gedreht. Haben Stroboskope in einem Saal aufgestellt, das Volkslied He, Kosak, he, Kosak, wo ist dein Pferd geblieben? angestellt und die Patienten gebeten zu tanzen. Das haben sie dann gemacht. Unter den Stroboskopen. So gut sie konnten. Dann haben wir auf diese Bilder eine neue Tonspur gelegt. War wirklich sehr stilvoll. Aber zeigen durften wir das nicht. War irgendwie nicht angesagt.«Ich stellte mir die Videospur vor und erschauerte.

»Clips sind nicht meine Stärke«, gab Lass zu. »Auch als Musiker tauge ich nicht viel… Einmal wurde ein Song von mir im Radio gespielt, spät nachts, in einer Sendung für alle möglichen Looser. Was glaubst du, was da passiert ist? Ein bekannter Komponist rief beim Radio an, um zu sagen, dass er sein ganzes Leben lang versucht habe, den Menschen mit seinen Liedern das Gute und Ewige nahe zu bringen, aber dieser eine Song mache sein ganzes Lebenswerk zunichte… Du hast doch schon ein Lied von mir gehört. Bist du danach ein schlechter Kerl geworden?«

»Meiner Meinung hat das Lied sich lustig gemacht«, sagte ich. »Über die schlechten Kerle.«

»Danke«, meinte Lass traurig. »Aber das ist die Krux: dass viele das gar nicht kapieren. Die glauben, das ist alles ernst.«

»Dann sind sie Idioten«, versuchte ich den verkannten Barden zu trösten.

»Aber sie sind in der Mehrheit«, rief Lass aus. »Und die Kopfprothesen sind noch nicht ausgereift…«

Er griff nach der Flasche, goss Wodka ein. »Komm vorbei, wenn du wieder pinkeln musst«, forderte er mich auf. »Nur keine falsche Scham. Außerdem werde ich dir noch den Schlüssel von einer Wohnung im vierzehnten Stock geben. Die ist leer, hat aber Klos. »

»Hat denn der Besitzer nichts dagegen?«, grinste ich.

»Dem ist jetzt alles egal. Und die Erben kriegen's nicht fertig, die Bude unter sich aufzuteilen.«

Drei

Um vier Uhr morgens kehrte ich in meine Wohnung zurück. Leicht betrunken, aber erstaunlich entspannt. Derart andere Menschen trifft man schließlich selten. Die Arbeit in der Wache erzieht dich in gewisser Weise dazu, pauschal zu denken. Der raucht nicht, der trinkt nicht, also ist er ein guter Junge. Aber der flucht, also ist er schlecht. Und wie man es auch dreht und wendet, uns interessieren nun mal in erster Linie die guten, unsere Stütze, während die schlechten eine potenzielle Basis für die Dunklen darstellen.

Darüber vergessen wir dann gern, wie unterschiedlich Menschen sein können.

Der Barde wusste nichts von den Anderen. Da war ich mir absolut sicher. Und wenn es mir gelingen würde, mit jedem Mieter im Assol so die halbe Nacht lang zusammenzuhocken, dann könnte ich mir von jedem einzelnen ein genaues Bild machen.

Allerdings gab ich mich dieser Illusion gar nicht erst hin. Nicht jeder würde mich reinbitten, nicht jeder würde über Gott und die Welt plaudern. Von den zehn Mietern abgesehen, gab es noch Hunderte von Menschen, die hier arbeiteten: Security-Leute, Installateure, Handwerker, Buchhalter. Niemals könnte ich die in absehbarer Zeit alle überprüfen!

Nachdem ich geduscht hatte - in der Duschkabine hing ein komischer Schlauch, aus dem Wasser plätscherte -, kam ich in mein einziges Zimmer. Ich musste schlafen… Morgen früh würde ich

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