einen Kaffee zu machen. Auf das Geländer gestützt, starrte ich nach unten.

Und entdeckte dort meinen nächtlichen Bekannten. Der Gitarrist und Sammler von albernen T-Shirts, der glückliche Besitzer eines großen englischen Klosetts, stand neben einem offenen Becken, in dem lebende Hummer krabbelten. Auf dem Gesicht von Lass spiegelte sich angestrengte Denkarbeit wider. Dann grinste er und schob seinen Wagen zur Kasse. Ich merkte auf.

Lass legte gemächlich seine bescheidenen Einkäufe aufs Fließband, unter denen eine Flasche tschechischer Absinth herausragte. »Wissen Sie«, meinte er beim Bezahlen, »da bei Ihrem Hummerbecken…«

Die Kassiererin lächelte und brachte mit ihrer ganzen Miene zum Ausdruck, dass es in der Tat ein solches Becken gebe, dass in ihm Hummer schwämmen und ein Paar dieser Gliederfüßer ganz ausgezeichnet zu Absinth, Kefir und Tiefkühlpelmenis passe.

»Also da«, fuhr Lass ungerührt fort, »habe ich gerade gesehen, wie ein Hummer auf den Rücken eines andern geklettert ist, dann den Beckenrand erklommen hat und unter den Tiefkühltruhen verschwunden ist…«

Die Frau blinzelte ein paar Mal. Kurz darauf erschienen zwei Security-Leute und eine kräftige Putzfrau an der Kasse. Sobald sie die schreckliche Nachricht von der Flucht hörten, stürzten sie auf die Tiefkühltruhen zu. Lass sah sich noch einmal im Supermarkt um und bezahlte.

Die Jagd nach dem nicht existierenden Hummer erreichte ihren Höhepunkt. Die Putzfrau fuchtelte mit ihrem Schrubber unter den Truhen herum, die Security-Männer wuselten um sie herum. »Zu mir«, schnappte ich auf, »treib ihn zu mir! Gleich hab ich ihn.«

Mit einem Ausdruck stiller Freude im Gesicht wandte sich Lass dem Ausgang zu.

»Schlag nicht so toll zu, sonst verbeulst du den Panzer, dann können wir das Ding nicht mehr verkaufen«, warnte einer der Security-Leute.

Während ich versuchte, das einem Lichten Magier unwürdige Lächeln von meinen Lippen zu scheuchen, nahm ich von der Barfrau meinen Kaffee entgegen. Nein, so einer würde bestimmt nicht mit einer Schere Buchstaben aus einer Zeitung ausschneiden. Das war viel zu langweilig. Mein Handy klingelte. »Hallo, Sweta«, sagte ich. »Wie geht's dir, Anton?«Diesmal lag weniger Sorge in ihrer Stimme.

»Ich trinke gerade einen Kaffee. Mit den Kollegen habe ich bereits gesprochen. Mit denen von den Konkurrenzfirmen.«

»Aha«, erwiderte Swetlana. »Gut gemacht. Brauchst du meine Hilfe, Anton? »

»Du gehörst doch nicht… zum Personal«, meinte ich verdutzt.

»Ja und?!«, blaffte Swetlana prompt. »Ich mach mir um dich Sorgen, nicht um die Wache!«

»Bislang ist das nicht nötig«, beruhigte ich sie. »Was macht Nadjuschka?«

»Sie hilft Mama Borschtsch kochen«, amüsierte sich Swetlana. »Wird wohl noch ein Weilchen dauern mit dem Mittagessen. Soll ich sie rufen? »

»Hm«, meinte ich entspannt und setzte mich ans Fenster.

Nadja kam jedoch nicht, denn sie wollte nicht mit ihrem Papa telefonieren. Mit zwei Jahren kommt solche Direktheit vor.

Ein Weilchen unterhielt ich mich noch mit Swetlana. Eigentlich wollte ich sie fragen, ob sie noch immer ihre dummen Vorahnungen hatte, ließ es dann aber doch bleiben. Ihre Stimme sagte mir bereits, dass dem nicht so war.

Schließlich beendete ich das Gespräch, legte das Handy jedoch nicht beiseite. Im Büro rief ich besser nicht an. Aber wenn ich nun mit jemanden privat sprechen wollte?

Außerdem musste ich doch wohl in die Stadt fahren, jemanden treffen, mich um meine Handelsgeschäfte kümmern und neue Verträge abschließen? Ich wählte Semjons Nummer. Genug des Detektivspiels. Lichte lügen einander nicht an.

Für Treffen, die nicht ganz beruflich, aber auch nicht völlig privat sind, gibt es nichts besseres als kleine Kneipen mit maximal fünf, sechs Tischen. Kneipen fand man früher in Moskau gar nicht. Wenn schon öffentliche Verköstigung, dann in einem Raum, in dem man wunderbar große Partys geben konnte.

Jetzt haben wir auch Kneipen.

Eine solche völlig unauffällige Lokalität lag im Zentrum, in der Soljanka. Die Haustür führte direkt auf die Straße hinaus, drinnen gab es fünf Tische, eine kleine Bar - im Assol sind selbst die Bartresen in den Wohnungen beeindruckender.

Auch das Publikum wirkte absolut durchschnittlich. Kein Club für Verfechter bestimmter Interessen, wie Geser sie so gern sammelt: Hier treffen sich die Taucher, hier die Profidiebe.

Die Küche konnte schon gar keine Extravaganz für sich beanspruchen. Zwei Sorten Bier vom Fass, diverse Alkoholika, Würstchen aus der Mikrowelle und Pommes. Fastfood.

Ob Semjon deshalb vorgeschlagen hatte, dass wir uns hier treffen? Er passte nämlich hundertprozentig in diese Kneipe. Auch ich fiel übrigens nicht sonderlich aus dem Rahmen…

Nachdem Semjon den Schaum geräuschvoll an den Glasrand gepustet hatte - nur in alten Filmen hatte ich dergleichen schon gesehen -, trank er den ersten Schluck von seinem Klinsker Goldbräu und sah mich friedfertig an. »Erzähl mal.«

»Hast du schon von der Krise gehört?«, packte ich den Stier gleich bei den Hörnern. »Von welche genau?«, wollte Semjon wissen. »Von der Krise mit den anonymen Briefen.«

Semjon nickte. »Ich habe gerade die zeitweilige Registrierung für unsern Gast aus Prag vorgenommen«, erzählte er mir sogar.

»Weißt du, was ich glaube«, sagte ich, wobei ich das Bierglas auf dem sauberen Tischtuch drehte. »Der Absender ist ein Anderer.«

»Ohne Zweifel!«, erwiderte Semjon. »Trink ruhig dein Bier. Wenn du willst, mach ich dich nachher wieder nüchtern. »

»Da wirst du keinen Erfolg haben, ich bin versiegelt.«

Mit zusammengekniffenen Augen sah Semjon mich an. Und musste erkennen, dass es stimmte und dass es über seine Kräfte ging, die für jede Magie undurchdringliche Schale aufzubrechen, die von keinem Geringeren als Geser um mich gelegt worden war.

»Also«, fuhr ich fort. »Wenn der Absender ein Anderer ist, was will er dann damit erreichen?«

»Die Isolierung oder Eliminierung des Menschen, der sein Auftraggeber ist«, antwortete Semjon gelassen. »Offenbar hat er ihm das leichtfertige Versprechen gegeben, aus ihm einen Anderen zu machen. Und jetzt kriegt er Muffensausen.«

Meine gesamten heroischen geistigen Mühen hätte ich mir sparen können. Semjon, der nicht direkt mit dem Fall befasst war, kam mit seinem eigenen Verstand problemlos genauso weit.

»Es ist ein Lichter Anderer«, sagte ich. »Warum?«, wunderte sich Semjon.

»Ein Dunkler hätte jede Menge Möglichkeiten, ein Versprechen nicht einzuhalten.«

Semjon dachte nach, kaute auf einem Stück Pommes herum und meinte dann, dass dem wohl so sei. Aber hundertprozentig wollte er die Verwicklung eines Dunklen in die Sache nicht ausschließen. Denn auch Dunkle könnten unüberlegt etwas schwören, woran sie dann gebunden seien. Sie könnten zum Beispiel etwas beim Dunkel schwören, die Urkraft als Zeuge anrufen. Danach kämen sie nicht so ohne weiteres davon los.

»Stimmt«, pflichtete ich ihm bei. »Trotzdem sind die Chancen größer, dass einer von unsern Leuten Mist gebaut hat.«Semjon nickte. »Ich war's nicht«, sagte er dann. Ich wich seinem Blick aus.

»Mach dir keinen Kopf«, beruhigte mich Semjon mit gelassener Stimme. »Du hast alles richtig analysiert und richtig gemacht. Auch wir können Mist bauen. Auch ich kann unbedacht handeln. Danke, dass du mit mir reden wolltest und nicht zum Chef gerannt bist… Ich gebe dir mein Wort, Lichter Magier Anton Gorodezki, dass ich die dir bekannten Briefe nicht abgeschickt habe und ihren Absender nicht kenne. »

»Weißt du, da bin ich sehr froh«, gab ich ehrlich zu.

»Und ich erst«, grinste Semjon. »Ich sage dir eins: Der Andere, der diesen Fehler gemacht hat, ist ein echter Dreckskerl. Nicht nur, dass er die Wachen mit in die Sache zieht, nein, auch noch die Inquisition. Entweder hat er nur Stroh im Kopf, oder er hat alles bestens kalkuliert. Im ersten Fall ist er erledigt, im zweiten wird er seine Haut retten können. Ich wette zwei zu eins, dass er ungeschoren davonkommt.«

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