»Kann man einen normalen Menschen also doch in einen Anderen verwandeln, Semjon?«, fragte ich. Ehrlichkeit ist die beste Politik.

»Ich weiß es nicht.«Semjon schüttelte den Kopf. »Früher habe ich gedacht, es sei unmöglich. Doch die letzten Ereignisse legen nahe, dass es irgendein Schlupfloch geben muss. Ein sehr enges, sehr unbequemes. Aber es muss da sein. »

»Warum unbequem?«, griff ich dieses Wort auf.

»Ansonsten würden wir diesen Weg gehen. Was für ein Plus, wenn wir beispielsweise aus dem Präsidenten einen von uns machen könnten! Ach, nicht nur aus dem Präsidenten, sondern aus allen mehr oder weniger einflussreichen Leuten. Es müsste einen Anhang zum Vertrag geben, der die Initiierung regelt, es gäbe die gleichen Konflikte, aber auf neuem Niveau.«

»Und ich dachte, das sei absolut verboten«, gab ich zu. »Die Mächtigen haben sich doch getroffen und vereinbart, dass Gleichgewicht nicht zu zerstören… und sich gegenseitig mit einer ultimativen Waffe gedroht…»

»Womit?«Semjon erstarrte.

»Mit einer ultimativen Waffe. Erinnerst du dich noch, wie du mir von Wasserstoffbomben mit gewaltiger Sprengkraft erzählt hast? Eine für uns, eine für die Amis… Vermutlicht gibt es in der Magie doch etwas Ähnliches…«

»Was redest du denn da, Anton!«Semjon lachte. »Solche Bomben gibt es nicht, das ist reine Phantasie, hat sich jemand ausgedacht! Beschäftige dich mal mit Physik! In den Ozeanen gibt es zu wenig schweres Wasser, als dass es zu einer permanenten thermonuklearen Reaktion kommen könnte!«

»Weshalb hast du mir das dann erzählt?«, fragte ich fassungslos.

»Wir haben damals allerlei dummes Zeug zusammengeredet. Ich habe nicht geglaubt, dass du das für bare Münze nehmen würdest…«

»Hohlkopf«, murmelte ich, während ich an meinem Bier nippte. »Danach habe ich übrigens nächtelang schlecht geschlafen…«

»Es gibt keine ultimative Waffe, du kannst beruhigt schlafen«, grinste Semjon. »Keine echte, keine magische. Und selbst wenn wir davon ausgehen, dass es möglich ist, gewöhnliche Menschen zu initiieren, muss die Prozedur wohl ausgesprochen schwierig sein, widerwärtig und mit Nebeneffekten. Mit einem Wort, alle lassen die Finger davon. Sowohl wir als auch die Dunklen.«

»Weißt du was von einer solchen Prozedur?«, hakte ich noch mal nach.

»Nein.«Semjon dachte nach. »Nein, ganz bestimmt nicht. Sich den Menschen gegenüber zu erkennen geben, ihnen entsprechende Befehle zu erteilen oder, sagen wir es mal so, sie als Freiwillige zu rekrutieren - all das ist schon vorgekommen. Aber dass man einen Menschen, den man braucht, in einen Anderen verwandelt hat, das ist mir noch nie zu Ohren gekommen.«Schon wieder eine Sackgasse. Ich nickte. Blickte düster in mein Bierglas.

»Verbeiß dich nicht in die Sache«, riet Semjon mir. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist der Andere ein Idiot oder ein absolut ausgebuffter Kerl. Im ersten Fall finden ihn die Dunklen oder die Inquisitoren. Im zweiten findet ihn niemand, aber man wird dem Menschen auf die Spur kommen und ihn von seinem seltsamen Wunsch abbringen. Solche Fälle hat es bereits gegeben…«

»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte ich. »Ich beklag mich ja nicht, es ist schon interessant, an so einem komischen Ort zu leben. Vor allem auf Firmenkosten…«

»Dann genieß es«, riet Semjon gelassen. »Oder lässt dein Stolz das nicht zu? Möchtest du es allen zeigen und den Verräter finden? »

»Ich bringe Sachen nun mal gerne zu Ende«, gab ich zu.

Semjon lachte los. »Ich mach nun schon ein Jahrhundert lang nichts andres, als Sachen auf halber Strecke hinzuwerfen… Es hat da zum Beispiel mal einen hübschen kleinen Fall gegeben, wo das Vieh des reichen Bauern Besputnow im Gouvernement Kostroma vergiftet worden ist. Ein Fall, der es in sich hatte, Anton! Ein Rätsel! Eine verworrene Intrige! Eine magische Vergiftung, aber so raffiniert ausgeführt… das Gift war im Hanf! »

»Fressen Tiere denn Hanf?«Meine Neugier war geweckt.

»Wer würde ihnen denn welchen geben? Aus diesem Hanf hat der Bauer Besputnow seine Leinen gedreht. An diesen Schnüren hat er das Vieh geführt. Durch sie ist dann der Schaden angerichtet worden. Ein heimtückisches Gift, das langsam wirkte und absolut verheerend war. Und im Umkreis von hundert Werst gab es keinen einzigen registrierten Anderen! Ich habe mich dann in diesem Dorf eingenistet, um den Halunken zu suchen…«

»Habt ihr früher wirklich so ordentliche Arbeit geleistet?«, wunderte ich mich. »Wurde tatsächlich wegen Vieh, wegen irgendeines Bauern ein Wächter hinzugezogen?«

»Auch früher hat man mal so, mal so gearbeitet«, lächelte Semjon. »Der Sohn des Bauern war ein Anderer, er hat darum gebeten, dass wir uns um seinen Vater kümmern, der sich schon beinah aus dieser Schnur seinen Strick gedreht hätte… Also bin ich da hingefahren, ganz der einsame Wolf, habe einen Haushalt gegründet, hab sogar bei einer Witwe landen können. Nebenbei habe ich den Täter gesucht. Und verstanden, dass ich auf die Spur einer alten Hexe gestoßen bin, die sich sehr gut getarnt hatte, bei keiner Wache arbeitete und in keiner Liste geführt wurde. Kannst du dir vorstellen, was für eine Intrige sie angezettelt hat? Die Hexe war zwei-, dreihundert Jahre! Sie hatte so viel Kraft gesammelt, dass sie es mit einem Magier ersten Grades aufnehmen konnte! Wie ein Detektiv von Pinkerton habe ich… nach ihr gefahndet… Die Hohen Magier wollte ich nicht um Hilfe bitten, das war mir peinlich. Nach und nach habe ich dann einige Anhaltspunkte herausbekommen, den Kreis der Verdächtigen eingegrenzt. Zu ihnen gehörte übrigens auch jene Witwe, die mir so gewogen war…«

»Und weiter?«, fragte ich begeistert. Auch wenn Semjon gern aufschnitt, diese Geschichte schien zu stimmen.

»Nichts weiter«, seufzte Semjon. »In Petrograd ist es zum Aufstand gekommen. Die Revolution. Da konnte mir eine abgebrühte Hexe echt egal sein, das wirst du verstehen. Dort floss Menschenblut in Strömen. Ich wurde abbeordert. Ich wollte noch einmal zurück, habe aber nie die Zeit dazu gefunden. Dann ist das Dorf überflutet worden, alle wurden evakuiert. Vielleicht lebt die Hexe gar nicht mehr. »

»Schade«, sagte ich.

Semjon nickte. »Das ist meine Geschichte. Und von der Sorte habe ich noch Unmengen auf Lager. Also nimm's nicht so schwer und mach dich nicht verrückt!«

»Wenn du ein Dunkler wärst«, meinte ich, »wäre ich mir sicher, dass du den Verdacht nur von dir ablenken willst.«

Semjon grinste. »Ich bin kein Dunkler, Anton. Das weißt du genau.«

»Und du weißt nichts über die Initiierung von Menschen…«, seufzte ich. »Ich hatte so gehofft…«

Semjon wurde wieder ernst. »Anton, ich sage dir noch etwas. Die Frau, die ich mehr als alles auf der Welt geliebt habe, ist 1921 gestorben. An Altersschwäche.«

Ich sah ihn an - und wagte es nicht zu lächeln. Semjon machte keinen Spaß.

»Wenn ich gewusst hätte, wie ich aus ihr eine Andere machen kann…«, flüsterte Semjon, wobei er ins Nichts starrte. »Wenn ich es doch bloß gewusst hätte… Ich habe ihr meine Identität enthüllt. Habe alles für sie getan. Sie ist nie krank gewesen. Mit dreiundsiebzig sah sie mal gerade wie dreißig aus. Selbst in Petersburg während der Blockade hat es ihr an nichts gefehlt. Als die Rotarmisten ihren Schutzbrief gesehen haben, hat es ihnen die Sprache verschlagen. Ich hatte mir eine Vollmacht von Lenin besorgt… Aber mein Leben konnte ich ihr nicht geben. So etwas geht über unsere Kraft.«Er sah mir finster in die Augen. »Wenn ich gewusst hätte, wie ich Ljubow Petrowna hätte initiieren können…, hätte ich niemanden um Erlaubnis gebeten. Alles hätte ich auf mich genommen. Ich hätte mich dematerialisiert, wenn ich nur aus ihr eine Andere hätte machen können…«

Semjon stand auf. Seufzte. »Jetzt ist mir ehrlich gesagt alles egal. Ob es verboten ist, aus Menschen Andere zu machen, interessiert mich nicht im Geringsten. Und dich sollte es auch nicht um deinen Schlaf bringen. Deine Frau ist eine Andere. Deine Tochter ist eine Andere. Reicht dir dieses Glück nicht? Selbst Geser kann davon nur träumen.«

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