muss jetzt eine Woche lang mit dem 500er fahren!«Und in seinen Augen liegt sowohl die Selbstbeherrschung des Asketen, der sich mit einem 500er begnügt, wie auch der Stolz des Besitzers eines 6ooer! Früher habe ich gedacht, solange die neureichen Russen nicht auf den ihnen angemessenen Bentley oder Jaguar umsteigen, wird es mit diesem Land nicht bergauf gehen. Jetzt sitzen sie in den Schlitten, aber geändert hat sich trotzdem nichts! Die roten Jacketts schimmern immer noch unter den Hemden von Versace durch… Übrigens… einen tollen Modemacher haben sie da für kultig erklärt…«
Ich folgte Lass in ein gemütliches Abteil des Schlafwagens. Hier gab es nur zwei Betten, einen kleinen Ecktisch, ein darunter verstecktes dreieckiges Waschbecken und einen hochklappbaren Stuhl.
»Ehrlich gesagt ist es hier kleiner als in einem normalen Abteil«, bemerkte ich.
»Hm. Dafür funktioniert die Klimaanlage. Und dann das Waschbecken… eine Vorrichtung, die in vielen Situationen des Lebens gute Dienste leistet…«
Lass zog unter einer Bank seinen Aluminiumkoffer hervor und fing an, darin herumzukramen. Im Handumdrehen stand eine Einliterflasche aus Plastik auf dem Tisch. Ich langte danach, um mir das Etikett anzugucken. Tatsächlich: Kumys.
»Hast du gedacht, ich mach Spaß?«, grinste mein»Nachbar«. »Das ist ein sehr gesundes Getränk. Damit willst du handeln? »
»Ja, genau damit«, brummte ich.
»Daraus wird nichts, das Zeug ist kirgisisch. Du solltest sowieso besser nach Ufa fahren. Das ist näher, und du hast keine Probleme mit dem Zoll. Die machen Kumys und Busa. Hast du schon mal Busa probiert? Das ist eine Mischung aus Kumys und Haferschleim. Absolut widerlich! Macht dich aber schlagartig nüchtern!«
Auf dem Tisch waren in der Zwischenzeit eine Wurst, Karbonade, ein angeschnittenes Brot, eine Literflasche französischer Kognak der Marke Polignac, die ich nicht kannte, und eine Flasche französisches Evian-Wasser erschienen.
Ich schluckte und ergänzte das kulinarische Angebot um meine bescheidene Gabe. »Lass uns als Erstes den Armagnac probieren«, schlug ich vor.
»Gut«, meinte Lass, während er Plastikbecher für Wasser und zwei kleine Becher aus Neusilber für den Kognak hinstellte. »Öffne du.«
»Deinen Armagnac musst du schon selbst aufmachen«, parierte Lass mühelos. Stimmt schon, irgendwie klang da was faul!
»Mach du das lieber!«, verlangte ich ganz direkt. »Bei mir kriegen nie alle gleich viel.«
Lass guckte mich an, als sei ich ein Idiot. »Du nimmst das Ganze aber ernst«, konstatierte er. »Genehmigst dir wohl oft ein Gläschen mit Freunden?«
Trotzdem nahm er die Flasche an sich und machte sich daran, den Verschluss aufzudrehen. Ich wartete.
Lass keuchte und verzog das Gesicht. Hörte auf, an dem Verschluss zu drehen, um ihn stattdessen sorgfältig zu inspizieren. »Er muss eingetrocknet sein…«, murmelte er. Von wegen ein maskierter Anderer!
»Gib mal her«, sagte ich.
»Nein, jetzt warte«, empörte sich Lass. »Was ist das? Erhöhter Zuckergehalt? Gleich…«
Er packte den Saum seines T-Shirts, wickelte ihn um den Verschluss und drehte so heftig daran, dass seine Adern hervortraten. »Er kommt!«, rief er hitzig. »Er kommt!«Etwas splitterte. »Er kommt…«, wiederholte Lass unsicher. »Oh…«
Bedripst streckte er mir die Hände hin. In der einen hielt er die gläserne Flasche, in der andern den Verschluss - der fest in dem abgebrochenen Hals steckte. »Tut mir leid… so ein Mist…«
Doch schon im nächsten Moment flackerte in Lass' Blick so etwas wie Stolz auf. »Mann, hab ich Kräfte! Niemals hätte ich gedacht…«
Ich schwieg, während ich mir Edgars Gesicht vorstellte, der seinen kostbaren Artefakt eingebüßt hatte.
»War das eine wertvolle Flasche?«, fragte Lass schuldbewusst. »Antiquarisch oder so?«
»Ouatsch«, murmelte ich. »Um den Armagnac tut es mir leid. Da ist jetzt Glas drin.«
»Das macht nichts«, versicherte Lass munter. Er stellte die lädierte Flasche auf dem Tisch ab und kramte abermals in seinem Koffer herum. Schließlich beförderte er ein Taschentuch zu Tage und riss theatralisch das Etikett ab. »Das ist sauber. Nicht einmal gewaschen. Und kein chinesisches, sondern ein tschechisches, sodass wir keine Lungenentzündung befürchten müssen!«
Er faltete das Taschentuch zweimal, legte es über die Flaschenöffnung und goss den Armagnac ungerührt in die Becher. Dann hob er seinen. »Auf die Reise! »
»Auf die Reise!«, wiederholte ich.
Der Armagnac war mild, aromatisch und leicht süß, fast wie warmer Traubensaft. Er trank sich gut, ließ nicht mal den Gedanken aufkommen, man müsse etwas dazu essen - und explodierte bereits irgendwo tief in meinem Innern, so human und präzise, dass jede amerikanische Rakete vor Neid erblassen könnte.
»Ein ausgezeichnetes Tröpfchen«, lobte Lass und atmete tief aus. »Aber wie ich schon gesagt habe, ein zu hoher Zuckergehalt! Mir schmeckt armenischer Kognak gerade deshalb besser, weil er ein Minimum an Zucker enthält, dafür aber das ganze Aromaspektrum bewahrt… Lass uns noch einen trinken.«
Die zweite Runde kam in die Becher. Lass guckte mich herausfordernd an. »Auf die Gesundheit?«, schlug ich unsicher vor.
»Auf die Gesundheit«, stimmte Lass zu. Er trank aus und schnüffelte an dem Taschentuch. Dann schaute er zum Fenster hinaus und zuckte zusammen. »Mannomann… das Zeug haut dich um. »
»Was ist?«
»Du wirst denken, ich spinne, aber ich glaube, neben dem Waggon fliegt eine Fledermaus!«, rief Lass aus. »Eine riesige, so groß wie ein Schäferhund. Br, rr, rr…«
Ich nahm mir vor, mit Kostja mal ein paar freundliche Takte zu reden. »Das ist keine Fledermaus«, versuchte ich das Ganze als Scherz abzutun. »Sondern vermutlich ein Eichhörnchen.«
»Ein fliegendes Eichhörnchen«, grummelte Lass. »Ja, ja, keiner entkommt seinem Schicksal… Nein, das ist eine riesige Fledermaus, Ehrenwort!«
»Die ist bloß ziemlich dicht an die Scheibe herangeflogen«, vermutete ich. »Da du nur kurz hingeschaut hast, konntest du die Entfernung nicht richtig einschätzen, und da ist dir das Tier viel größer vorgekommen, als es eigentlich ist.«
»Hm, kann schon sein…«, meinte Lass nachdenklich. »Und was macht sie hier? Warum fliegt sie neben dem Zug her?«
»Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung«, sagte ich, griff mir die Flasche und schenkte die dritte Runde aus. »Eine Lok, die sich mit hoher Geschwindigkeit vorwärts bewegt, schafft vor sich eine Art Luftschild. Dieser Schild schlägt Mücken, Schmetterlinge und alles mögliche fliegende Getier k. o. und stößt es in die Luftstrudel hinein, die auf allen Seiten um den Zug herumwirbeln. Daher lieben Fledermäuse es, nachts neben einem fahrenden Zug herzufliegen und die ausgeschalteten Mücken zu fressen.«
Lass dachte darüber nach. »Und warum fliegen dann tagsüber nicht Vögel neben den Zügen her?«
»Das ist genauso einfach!«Ich hielt ihm den Becher hin. »Vögel sind viel dümmere Geschöpfe als Säugetiere. Daher haben Fledermäuse bereits mitgekriegt, wie sie einen Zug zur Nahrungsbeschaffung ausnutzen können, und Vögel eben noch nicht! In hundert, zweihundert Jahren wird auch zu den Vögeln vorgedrungen sein, wie sie von Zügen profitieren können.«
»Und warum bin ich nicht selbst dahintergekommen?«, wunderte sich Lass. »Das ist in der Tat höchst simpel! Also dann… auf einen guten Gedanken!«Wir tranken auf ex.
»Tiere sind eine erstaunliche Sache«, sagte Lass tiefsinnig. »Viel klüger, als Darwin es darstellt. Bei mir lebte mal…«
Was mal bei ihm gelebt hatte, ein Hund, eine Katze, ein Hamster oder ein Aquariumsfisch, bekam ich nicht mehr zu hören. Lass schaute erneut aus dem Fenster und wurde ganz grün im Gesicht.