zum Zugführer. Ich habe kaum Platz. Nur noch vier freie Plätze.«

»Gehen wir zu deinem Chef«, stimmte Edgar zu. »Anton, was ist mit dem»Kompass«?«

Ich hob den Brief an und schaute auf den im Zwielicht hängenden»Kompass«. Die Nadel drehte sich langsam. »Offensichtlich ist das Buch im Zug.«

»Um sicher zu sein, werden wir noch ein bisschen warten«, verkündete Edgar.

Doch auch nachdem wir den Bahnhof gut einen Kilometer hinter uns gelassen hatten, drehte die Nadel sich immer noch. Der Täter, wer immer es auch sein mochte, saß mit uns im Zug.

»Er ist im Zug, das Schwein«, sagte Edgar. »Wartet hier auf mich. Ich geh zum Zugführer, wir müssen irgendwo unterkommen.«

Zusammen mit dem zufrieden lächelnden Ashat ging er den Gang hinunter. Ein zweiter Waggonbetreuer sagte, sobald er seinen Kollegen sah, etwas auf Kasachisch und fuchtelte wütend mit den Armen. Doch dann fing er Edgars Blick auf und verstummte.

»Wir können uns auch gleich ein Schild umhängen: Wir sind die Anderen«, bemerkte Kostja. »Was denkt er sich denn? Wenn in dem Zug wirklich ein Hoher Anderer sein sollte, spürt er die Magie…«

Kostja hatte Recht. Weitaus klüger wäre es, alles mit Geld zu regeln - dessen Magie ist bei Menschen nicht weniger effektiv. Aber Edgar war vermutlich zu konfus…

»Und du? Spürst du die Magie?«, fragte plötzlich einer der niedrigeren Inquisitoren.

Irritiert drehte sich Kostja zu ihm um. Dann schüttelte er den Kopf.

»Auch sonst spürt sie niemand. Edgar hat ein Gehorsamsamulett. Es wirkt nur aus der Nähe.«

»Die Tricks der Inquisition…«, murmelte Kostja eingeschnappt. »Trotzdem sollten wir besser nicht auffallen, oder, Anton?«Widerwillig nickte ich.

Zwanzig Minuten später kam Edgar zurück. Auf welche Weise er sich mit dem Zugführer geeinigt hatte - mit Geld oder, was wahrscheinlicher war, unter Zuhilfenahme seines mysteriösen Gehorsamsamuletts -, fragte ich nicht. In Edgars Gesicht standen Zufriedenheit und Beruhigung geschrieben.

»Wir teilen uns in zwei Gruppen.«Sofort übernahm er das Kommando. »Ihr«- er nickte in Richtung der Inquisitoren -»bleibt in diesem Waggon. Ihr bekommt den Raum der Waggonbetreuer und dazu noch das Abteil 1, das sind genau sechs Plätze. Ashat wird es euch zeigen… Überhaupt, zögert nicht, euch an ihn zu wenden, falls etwas sein sollte. Handelt nicht auf eigene Faust, spielt nicht Detektiv. Benehmt euch wie… wie Menschen. Liefert mir alle drei Stunden persönlich einen Bericht über die Lage… oder wann immer es sonst nötig ist. Wir sind im Waggon 7.«

Schweigend folgten die Inquisitoren dem lächelnden Waggonbetreuer zu ihrem Abteil. Edgar drehte sich zu Kostja und mir um. »Wir sind in Waggon 7, Abteil 4. Das können wir als unsere zeitweilige Basis betrachten. Gehen wir.«

»Haben Sie irgendeinen Plan, Chef?«, fragte Kostja in einer Mischung aus Ironie und Aufrichtigkeit.

Edgar sah ihn kurz an. Offenbar versuchte er, sich darüber klar zu werden, was in dieser Frage überwog, das Interesse oder die Frechheit, auf die er dann nicht antworten müsste. »Wenn ich einen Plan habe, werdet ihr es erfahren«, sagte er schließlich doch. »Alles zu seiner Zeit. Im Moment möchte ich nur einen Kaffee trinken und zwei, drei Stunden schlafen. In dieser Reihenfolge.«

Kostja und ich folgten Edgar. Der Vampir grinste. Wohl oder übel zwinkerte ich ihm daraufhin zu. Letzten Endes verband uns die untergeordnete Stellung ja doch - ungeachtet dessen, was ich über Kostja dachte.

Der Waggon, in dem der Zugführer mitfährt, ist der beste im ganzen Zug. Die Klimaanlage fällt hier nie aus. Es gibt immer heißes Wasser für Tee und beim Waggonbetreuer auch Sud. Außerdem ist es hier sauber, selbst in den asiatischen Zügen, die Bettwäsche wird in verschweißten Päckchen ausgegeben und tatsächlich nach jeder Fahrt gewaschen. Beide Toiletten funktionieren, und man kann sie beherzt ohne Gummistiefel betreten.

Zur Krönung des anspruchslosen Glücks eines Reisenden liegt der Waggon direkt zwischen Speisewagen und Schlafwagen - falls es den überhaupt gibt.

Im Zug Moskau-Almaty gab es einen Schlafwagen. Während wir durch ihn hindurchgingen, betrachteten wir neugierig die Passagiere. Bei den meisten handelte es sich um wichtige, wohlgenährte Kasachen. Fast alle trugen ein Aktenköfferchen in der Hand, von dem sie sich auch nicht trennten, wenn sie mal in den Gang hinaustraten. Einige tranken bereits Tee aus bunten Porzellanschalen, einige breiteten ihren Wurstaufschnitt aus, stellten Flaschen auf und tranchierten gekochtes Huhn. Die meisten standen jedoch noch im Gang, um auf die vorbeiziehenden Moskauer Vororte zu schauen.

Was sie wohl empfinden mögen, die Bürger des heute unabhängigen Landes, wenn sie auf ihre ehemalige Hauptstadt blicken? Ob ihnen die Unabhängigkeit wirklich Genugtuung verschafft? Oder ob sie nicht doch Nostalgie befällt?

Keine Ahnung. Fragen kannst du sie nicht, und selbst wenn du fragst, wäre nicht gesagt, dass du eine ehrliche Antwort bekommst. Und in ihr Bewusstsein eindringen, sie zwingen, die Wahrheit zu sagen, das ist nicht mein Ding.

Sollen sie sich ruhig freuen und stolz sein - auf ihre Unabhängigkeit, ihren eigenen Staat, ihre Korruption. Als man vor kurzem in St. Petersburg das dreihundertjährige Bestehen der Stadt gefeiert hat, machte ein Wort die Runde-. »Sollen sie uns doch nach Strich und Faden bestehlen - immerhin sind es unsere Diebe, keine Moskauer.«Warum sollten Kasachen und Usbeken, Ukrainer und Tadschiken nicht dieselben Gefühle hegen? Wenn schon innerhalb eines Landes ein Graben zwischen den Republiken und Städten verläuft, was sollte man dann den Nachbarn aus der einstigen Wohngemeinschaft vorwerfen? Man sondert sich ab, wenn man ein Zimmer mit Fenster zur Ostsee hat, die stolzen Georgier und die Kirgisen mit der einzigen Hochgebirgs-Kriegsflotte der Welt - alle haben mit Freuden abgespalten. Am Ende bleibt dann nur eine große Küche übrig, Russland nämlich, wo früher einmal in einem einzigen imperialen Kessel die verschiedenen Völker gekocht wurden. Ach ja. Was will man da schon machen. Wir haben zu Hause Gas. - Und ihr, werdet ihr da nicht ganz blass?

Sollen sie sich doch freuen. Sollen es sich doch alle gut gehen lassen. Sowohl die mit ihrem Jubiläum beglückten Petersburger - denn ein solches Fest reicht bekanntlich für ein ganzes Jahrhundert - wie auch die Kasachen und Kirgisen, die jetzt erstmals ihren eigenen Staat haben, wobei sie natürlich eine Unmenge an Beweisen für ihre Staatlichkeit in der Vergangenheit vorgebracht haben. Und auch unsere slawischen Brüder sollen es sich gut gehen lassen, die so unter der Existenz des großen Bruders gelitten haben, und nicht zuletzt wir, die Russen, die wir uns mit Feuereifer verachten: die Moskauer die Provinzler und umgekehrt.

Einen Moment lang empfand ich zu meiner eigenen Überraschung Ekel. Nein, nicht vor den hier mitfahrenden Kasachen oder meinen russischen Mitbürgern. Vor den Menschen. Vor allen Menschen auf der Welt. Womit beschäftigen wir von der Nachtwache uns denn? Abgrenzen und schützen? Quatsch! Nicht ein Dunkler, nicht eine Tagwache fügt den Menschen so viel Böses zu wie sie sich selbst. Was ist schon ein hungriger Vampir im Vergleich zu einem stinknormalen Verrückten, der in Fahrstühlen kleine Mädchen vergewaltigt und ermordet? Was ist eine mitleidlose Hexe, die gegen Geld Unheil wirkt, im Vergleich mit einem humanen Präsidenten, der Langstreckenraketen losschickt - wegen Öl? Verflucht seien sie alle…

Ich blieb vor der Waggontür stehen, ließ Kostja vorbei. Erstarrte, glotzte auf den vollgerotzten Boden, wo sich bereits das erste Dutzend stinkender Kippen angesammelt hatte. Was war nur mit mir los? Hatte ich diese Gedanken?

O nein, ich brauchte mir da nichts vorzumachen. Das waren meine, keine fremden. Niemand kroch in meinen Kopf hinein, selbst ein Hoher Anderer hätte das nicht unbemerkt geschafft. Das war ich. Pur. Ein ehemaliger Mensch. Ein sehr müder, von allem auf der Welt enttäuschter Lichter.

In diesen Fällen gehen Andere zur Inquisition. Wenn du den Unterschied zwischen Lichten und Dunklen nicht mehr bestimmen kannst. Wenn die Menschen für dich nicht mal mehr eine Hammelherde sind, sondern eine Hand voll Spinnen im Glas. Wenn du nicht mehr daran glaubst, dass alles besser wird, sondern nur noch eins willst: den Status quo erhalten. Für dich. Für die wenigen, an denen dir noch liegt.

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