die Entfernung zum Ziel bestimmen?«

»Annähernd, anhand der Helligkeit des Leuchtens… Hundertzehn, hundertzwanzig Kilometer.«

Geser blickte finster drein. »Das Buch ist bereits in Moskau. Wir verschwenden hier unsere Zeit, meine Herren. Edgar!«

Der Inquisitor steckte die Hand in die Tasche und holte eine gelblich-weiße Kugel aus Knochen heraus. Äußerlich sah sie wie eine gewöhnliche Billardkugel aus, nur etwas kleiner. Außerdem überzogen willkürlich eingravierte, unverständliche Piktogramme ihre Oberfläche. Edgar nahm die Kugel in beide Hände und konzentrierte sich.

Im nächsten Moment spürte ich, wie sich etwas veränderte. Als habe bis eben in der Luft ein mit bloßem Augen nicht zu erkennender, aber dennoch wahrnehmbarer Schleier gehangen - der jetzt verschwand, zusammenschrumpfte, in die beinerne Kugel kroch.

»Ich habe gar nicht gewusst, das die Inquisition noch minoische Kugeln in ihrem Besitz hat«, bemerkte Geser.

»Kein Kommentar«, sagte Edgar, zufrieden mit seinem Auftritt, lächelnd. »Gut, die Barrieren werden aufgelöst. Hängen Sie ein Portal auf, Große!«

Natürlich. Ein direktes Portal, das vorher»drüben«nicht markiert wird, das ist eine Aufgabe für Große. Edgar selbst konnte das entweder nicht oder wollte Kraft sparen…

Geser schielte zu Sebulon hinüber. »Vertrauen Sie mir noch einmal?«, fragte er.

Sebulon fuchtelte schweigend mit der Hand - und in der Luft öffnete sich ein im Dunkel klaffender Spalt. Sebulon trat als Erster hinein, danach, uns mit einem Zeichen auffordernd, ihm zu folgen, Geser. Ich nahm den wertvollen Brief Arinas zusammen mit dem unsichtbaren»Kompass«an mich und folgte Swetlana.

Obwohl das direkte Portal äußerlich anders aussah, war im Innern alles wie sonst. Ein milchiger Nebel, der Eindruck, sich schnell fortzubewegen, der vollständige Verlust des Zeitgefühls. Ich versuchte mich zu konzentrieren - gleich würden wir in die Nähe des Verbrechers kommen, des Mörders eines Hohen Vampirs. Geser und Sebulon würden natürlich das Kommando übernehmen. Swetlana war ihnen, wenn auch nicht an Erfahrung, so doch an Kraft sogar noch überlegen. Kostja mochte jung sein, war aber bereits ein Hoher. Und dann hatten wir noch Edgar mit seinem Team und den Taschen voller Artefakte aus den Beständen der Inquisition. Trotzdem konnte ein Kampf lebensgefährlich sein.

Im nächsten Moment begriff ich allerdings, dass es keinen Kampf geben würde. Zumindest nicht gleich.

Wir standen auf dem Bahnsteig des Kasaner Bahnhofs. Unmittelbar um uns herum gähnende Leere - die Menschen spüren, wenn in ihrer Nähe ein Portal geöffnet wird, und ziehen sich unwillkürlich etwas zurück. Ansonsten herrschte ein Gedränge, wie es selbst in Moskau nur im Sommer und nur auf einem Bahnhof denkbar ist. Die Menschen eilten zur Eisenbahn, stiegen aus Fernzügen, zogen Gepäck hinter sich, rauchten im Wartesaal an der Anzeigetafel, bis ihr Zug darauf erschien, tranken Bier oder Limonade, aßen die schrecklichen Bahnhofspiroggen und die nicht weniger suspekten Schawarma. Vermutlich befanden sich im Radius von hundert Metern nicht weniger als zwei-, dreitausend Menschen.

Ich blickte auf den imaginären»Kompass«. Langsam drehte sich die Nadel.

»Wir sollten umgehend Aschenbrödel anheuern«, sagte Geser, während er sich umsah. »Wir müssen einen Mohnsamen in einem Sack Hirse finden.«

Einer nach dem andern tauchten die Inquisitoren neben uns auf. Edgars Gesicht, der sich bereits auf einen harten Kampf eingestellt und vorbereitet hatte, spiegelte seine Verwirrung wider.

»Er versucht, sich zu verstecken«, sagte Sebulon. »Schön, soll er…«

Doch auch in seinem Gesicht stand keine besondere Freude geschrieben.

Unserer Gruppe näherte sich eine schwer befrachtete Frau mit gestreiften Plastiktaschen auf einem Handwagen. In dem verschwitzten roten Gesicht zeigte sich jene Entschlossenheit, wie sie nur eine russische Frau haben kann, die als so genanntes Shuttle arbeitet, indem sie Sachen aus dem Ausland heranschafft und sie hier verkauft, um ihren nichtsnutzigen Mann sowie drei oder vier Kinder durchzufüttern.

»Der Zug nach Uljanowsk ist noch nicht ausgerufen, oder?«, wollte sie wissen.

Swetlana schloss kurz die Augen. »In sechs Minuten auf Gleis 1, fährt mit drei Minuten Verspätung ab«, antwortete sie dann.

»Vielen Dank«, meinte die Frau, die sich über die Präzision der Auskunft nicht im Mindesten verwunderte. Dann ging sie zu Gleis 1.

»Das ist sehr freundlich, Swetlana«, murmelte Geser. »Aber welchen Vorschlag hast du, damit wir das Buch finden?«Swetlana breitete nur die Arme aus.

Das Cafe war so gemütlich und so sauber, wie ein Bahnhofscafe gemütlich und sauber sein kann. Vielleicht, weil es etwas komisch lag, im Souterrain, neben den Schließfächern. Hierher kamen kaum Bahnhofspenner, anscheinend hatten die Betreiber des Cafes ihnen das abgewöhnt. Eine ältere russische Hausfrau stand hinter dem Tresen, aus der Küche brachten einsilbige, freundliche Kaukasier das Essen herbei. Ein komischer Ort.

Ich holte für Sweta und mich trockenen Wein aus einem Dreiliter-Tetrapack. Der zu meinem Erstaunen billig und zu meinem noch größeren Erstaunen gut war. Damit kehrte ich zu dem Ecktisch zurück, an den wir beide uns gesetzt hatten.

»Es ist noch immer hier«, sagte Swetlana, indem sie in Richtung Arinas Brief nickte. Die Nadel des»Kompasses«drehte sich langsam.

»Vielleicht ist das Buch in einem Schließfach versteckt«, schlug ich vor.

Swetlana nippte an ihrem Wein und nickte - entweder meinem Vorschlag zustimmend oder sich mit dem Merlot aus Kras nodar abfindend. »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte ich vorsichtig.

»Warum der Bahnhof?«, antwortete Swetlana mit einer Gegenfrage.

»Um zu fliehen. Sich zu verstecken. Der Täter muss damit gerechnet haben, dass wir ihn verfolgen.«

»Der Flughafen. Ein Flugzeug. Egal wohin«, entgegnete Swetlana lakonisch, wobei sie ihren Wein in kleinen Schlucken trank. Ich breitete die Arme aus.

In der Tat, das war seltsam. Ein Anderer - wer auch immer er sein mochte - konnte, nachdem er das Fuaran gestohlen hatte, versuchen unterzutauchen oder zu fliehen. Unser Kandidat wählte die zweite Variante. Aber warum mit dem Zug? Im 21. Jahrhundert eine Flucht per Zug? »Vielleicht hat er Angst vorm Fliegen«, mutmaßte Swetlana.

Ich schnaubte nur. Natürlich hätte auch ein Anderer kaum Chancen, einen Flugzeugabsturz zu überleben. Aber er könnte sich drei, vier Stunden vorher die Wahrscheinlichkeitslinien ansehen, klären, ob bei einem Flug eine Katastrophe droht. Dazu ist sogar ein schwacher Anderer in der Lage. Und der Mörder von Viteszlav war nicht schwach.

»Er muss irgendwohin, wo keine Flugzeuge hinfliegen«, schlug ich vor.

»Immerhin könnte er Moskau erst mit dem Flugzeug verlassen, um seine Verfolger abzuschütteln.«

»Nein«, korrigierte ich Swetlana voller Vergnügen. »Das würde ihm nichts bringen. Wir könnten seinen Aufenthaltsort annähernd bestimmen, würden ahnen, in welchem Flugzeug der Täter sitzt, die Passagiere befragen, die Aufzeichnungen der Überwachungskameras im Flughafen auswerten und seine Identität feststellen. Dann würde Geser oder Sebulon ein Portal öffnen… und zwar genau da, wo er hin wollte. Damit hätte er im Vergleich zur jetzigen Situation nichts gewonnen, wir aber würden unseren Feind persönlich kennen.«

Swetlana nickte. Sah auf die Uhr. Schüttelte den Kopf. Einen Moment lang schloss sie die Augen und lächelte gelassen. Mit Nadjuschka war also alles in Ordnung.

»Warum sollte er überhaupt fliehen…«, meinte Swetlana nachdenklich. »Die Durchführung des Rituals, das im Fuaran beschrieben wird, dürfte kaum viel Zeit in Anspruch nehmen. Die Zauberin hat schließlich noch eine große Zahl ihrer Dienstboten in Andere verwandelt, als sie angegriffen wurde. Für den Mörder wäre es viel leichter gewesen, das Buch zu benutzen und ein Großer zu werden… der Allergrößte. Dann könnte er sich entweder auf

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