könnte ein Schlag von ihnen die ganze Welt vernichten. Die Zeiten, in denen der Stärkere gesiegt hat, sind vorbei. Vielleicht hatte es sie auch nie gegeben, diese Zeiten…»Die Nadel«, sagte Edgar. »Seht doch mal!«

Mein»Kompass«hörte auf, sich wie ein Ventilator aufzuführen. Die Nadel verlangsamte ihre Drehungen. Erstarrte, zitterte - und drehte sich langsam, um dann eine Richtung anzuzeigen.

»Yes!«, rief Kostja und stand auf. »Jetzt schnappen wir ihn uns!«

Den Bruchteil einer Sekunde erkannte ich in ihm wieder den kleinen Vampir, der noch kein Menschenblut gekostet hatte und überzeugt war: Für die Kraft muss man niemals irgendwas bezahlen…

»Dann los, meine Herren.«Edgar sprang auf. Sah auf die Nadel, folgte der Richtung mit dem Blick - und stieß auf die Wand. »Zu den Zügen«, verkündete er voller Überzeugung.

Drei

Eine typische Bahnhofsszene: Über die Bahnsteige hastete eine Hand voll Menschen, die versuchten herauszukriegen, von wo ihr Zug abfährt - wenn er nicht schon längst abgefahren war. Aus irgendeinem Grund übernahmen die Rolle der Zuspätkommenden am häufigsten entweder als Shuttles arbeitende Frauen, die mit gestreiften Plastiktaschen beladen waren, oder - das absolute Gegenteil von ihnen - intelligente Menschen, die lediglich einen Aktenkoffer von Samsonite und ein ledernes Handtäschchen bei sich trugen.

Wir gehörten zu einer exotischen Unterart der zweiten Kategorie: Gepäck hatten wir überhaupt nicht, äußerlich wirkten wir in erster Linie seltsam, dabei aber respekteinflößend.

Auf dem Bahnsteig fing die Nadel wieder an, sich zu drehen: Wir näherten uns dem Buch.

»Er versucht abzuhauen«, verkündete Sebulon triumphierend. »Also… klären wir als Erstes, welche Züge abfahren…«

Der Blick des Dunklen verschleierte sich, als er in die Zukunft sah, um festzustellen, welcher Zug als nächster abfahren würde.

Ich studierte die Informationstafel, die hinter mir hing. »Jetzt fährt der Zug Moskau - Almaty ab. In fünf Minuten. Von Gleis 2.«

Sebulon kehrte aus seinen seherischen Gefilden zurück. »Ein Zug nach Kasachstan von Gleis 2«, teilte er uns mit. »In fünf Minuten.«

Er machte eine sehr zufriedene Miene. Kostja schnaubte kaum hörbar.

Geser starrte demonstrativ auf die Tafel. »Ja, du hast Recht, Sebulon…«, sagte er. »Der nächste geht dann erst in einer halben Stunde.«

»Halten wir den Zug auf und durchkämmen alle Abteile«, schlug Edgar schnell vor. »Ja?«

»Sind deine Jungs imstande, den Anderen zu finden?«, fragte Geser. »Wenn er sich maskiert? Wenn er ein Magier außerhalb jeder Kategorie ist?«

Von einer Sekunde zur nächsten fiel Edgar in sich zusammen. Er schüttelte den Kopf.

»Siehst du«, meinte Geser nickend. »Das Buch ist im Bahnhof gewesen. Er ist im Bahnhof gewesen. Doch wir haben weder das Fuaran noch den Täter aufspüren können. Woher nimmst du die Gewissheit, dass es im Zug leichter wäre?«

»Wenn er im Zug ist, wäre es am einfachsten, den Zug in die Luft zu sprengen«, bemerkte Sebulon. »Dann hätten unsere Probleme ein Ende.«Stille senke sich herab. Geser schüttelte den Kopf.

»Mir ist klar, dass das eine unangenehme Entscheidung ist«, meinte Sebulon. »Mir gefällt sie ja auch nicht. Weshalb sollten wir einfach so Tausende von Menschenleben auslöschen… Aber haben wir denn eine Wahl? »

»Was schlägst du vor, Großer?«, fragte Edgar.

»Wenn…«Sebulon betonte dieses Wort ausdrücklich. »… das Fuaran tatsächlich im Zug ist, müssen wir einen Moment abpassen, in dem der Zug durch eine unbewohnte Gegend fährt. Die kasachische Steppe böte sich an. Alles Weitere würde dann… entsprechend den Plänen ablaufen, die die Inquisition für solche Fällen bereithält.«Edgar schüttelte nervös den Kopf. Wie immer, wenn er sich aufregte, schlug ein leichter baltischer Akzent bei ihm durch.

»Das ist kein guter Plan, Großer. Außerdem kann ich ihn nicht allein bewilligen, den müsste das Tribunal sanktionieren.«

Sebulon zuckte mit den Achseln und brachte durch sein ganzes Gebaren zum Ausdruck: Er wollte ja bloß einen Vorschlag machen.

»Auf alle Fälle müssen wir uns überzeugen, dass das Buch im Zug ist«, meinte Geser. »Ich schlage vor…«Er schaute zu mir hinüber und deutete ein Nicken an. »Ich schlage vor, Anton von der Nachtwache, Konstantin von der Tagwache und jemanden von der Inquisition in den Zug zu setzen. Damit sie ihn überprüfen. Eine große Gruppe ist dafür nicht nötig. Wir… wir würden morgen früh dazustoßen. Und dann entscheiden, was wir weiter unternehmen.«

»Fahr, Kostja«, sagte Sebulon zärtlich und klopfte dem jungen Vampir auf die Schulter. »Geser hat Recht. Das ist eine gute Gruppe, ihr habt einen langen Weg vor euch, eine interessante Sache - das wird dir gefallen.«Der amüsierte Blick in meine Richtung fiel kaum auf.

»Das… gibt uns Zeit«, stimmte Edgar dem Vorschlag zu. »Ich werde selbst mitfahren. Und meine Leute nehme ich ebenfalls mit. Alle.«

»Es bleibt noch eine Minute«, sagte Olga leise. »Wenn ihr das tun wollt, müsst ihr jetzt los.«

Edgar winkte seinen Trupp heran, und wir rannten zum Zug. Am ersten Waggon sagte Edgar etwas zum Waggonbetreuer, einem jungen Kasachen mit Schnurrbart. Seine Gesichtszüge wurden weich, spiegelten Müdigkeit wider - aber auch Fröhlichkeit. Dann trat der Mann einen Schritt zur Seite, um uns einsteigen zu lassen. Wir zwängten uns rein. Ich drehte mich noch einmal um. Sebulon, Geser und Olga standen auf dem Bahnsteig und blickten uns nach. Olga sagte leise etwas.

»In der jetzigen Situation werde ich die Gesamtleitung übernehmen«, erklärte Edgar. »Gibt es Einwände dagegen?«

Ich schielte zu den sechs Inquisitoren hinüber, die hinter ihm standen, und schwieg. Kostja konnte sich jedoch nicht beherrschen. »Kommt auf die Befehle an. Ich bin nur der Tagwache zu Gehorsam verpflichtet.«

»Ich wiederhole noch einmal: Die Operation leite ich«, sagte Edgar kalt. »Wenn Sie nicht einverstanden sind, schlage ich vor, dass Sie abziehen.«

Kostja schwankte nur eine Sekunde, dann senkte er den Kopf. »Verzeihen Sie, Inquisitor. Das war ein dummer Scherz. Natürlich übernehmen Sie das Kommando. Aber wenn es nötig sein sollte, würde ich mich mit meinem Chef in Verbindung setzen.«

»Erst wirst du springen, dann die Erlaubnis erbitten.«Edgar machte Nägel mit Köpfen.

»Gut«, sagte Kostja. »Verzeihen Sie, Inquisitor.«

Damit war jeder Aufstand im Keim erstickt. Edgar nickte und lehnte sich zur Tür hinaus, um den Waggonbetreuer zu rufen. »Wann fahren wir ab?«

»Jetzt!«, antwortete der Mann, der Edgar mit der Begeisterung eines treu ergebenen Hundes anschaute. »Jetzt! Wir müssen einsteigen! »

»Dann steig ein.«Edgar gab die Tür frei.

Der Mann stieg ein, immer noch den Ausdruck freudiger Unterwürfigkeit im Gesicht. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Um Gleichgewicht ringend, stand der Waggonbetreuer in der offenen Tür. »Wie heißt du?«, fragte Edgar. »Ashat. Ashat Kurmangalijew.«

»Schließ die Tür. Gehe deiner Arbeit entsprechend deinen Anweisungen nach.«Edgar runzelte die Stirn. »Wir sind deine besten Freunde. Wir sind deine Gäste. Du musst uns in diesem Zug unterbringen. Verstanden?«

Die Tür schlug zu, Ashat schloss sie ab und wandte sich wieder Edgar zu. »Ja. Wir müssen

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