einen Kampf mit uns einlassen oder das Fuaran vernichten und untertauchen. Wenn er nämlich stärker als wir geworden wäre, könnten wir ihn einfach niemals enttarnen.«

»Vielleicht ist er jetzt bereits stärker als wir«, bemerkte ich. »Wo Geser schon die Sprache auf die Initiierung von Nadja gebracht hat…«

Swetlana nickte. »Keine sehr verlockende Perspektive. Ob Edgar selbst vielleicht das Fuaran benutzt hat? Und jetzt diese Komödie aufzieht und so tut, als suche er den Täter. Sein Verhältnis zu Viteszlav war ausgesprochen kompliziert, Edgar ist sehr verschlossen… und jetzt wollte er eben der stärkste Andere weltweit werden…«

»Wozu brauchte er dann das Buch?«, konterte ich. »Er hätte es vor Ort lassen können, und Schluss! Wir hätten nicht mal mitgekriegt, dass Viteszlav ermordet worden ist. Sondern alles den Verteidigungszaubern zugeschrieben, die der Vampir nicht beachtet hat.«

»Du bringst mich auf einen Gedanken«, meinte Swetlana. »Der Mörder hat offensichtlich nicht die Kraft gebraucht. Oder nicht nur die Kraft. Er braucht auch das Buch.«

Plötzlich fiel mir Semjon ein. »Es muss jemanden geben, den der Mörder zum Anderen machen will!«, sagte ich. »Er hat gewusst, dass man ihm nicht erlauben würde, das Buch zu benutzen. Deshalb hat er Viteszlav umgebracht… Im Moment spielt keine Rolle, wie. Er hat das Ritual vollzogen und ist zu einem sehr starken Anderen geworden. Dann hat er das Buch versteckt… irgendwo hier, auf dem Bahnhof. Und jetzt hofft er, es rauszubringen.«

Swetlana streckte die Hand nach mir aus, und wir drückten uns über den Tisch hinweg triumphierend die Hände.

»Nur, wie bringt er es raus?«, hakte Swetlana nach. »Hier und jetzt sind die beiden stärksten Magier Moskaus vor Ort…»

»Drei«, korrigierte ich sie.

Swetlana runzelte die Stirn. »Dann sogar vier«, entgegnete sie. »Kostja ist immerhin ein Hoher…«

»Ein Rotzbengel ist er, wenn auch ein Hoher…«, murmelte ich. Irgendwie wollte mir nicht in den Kopf, dass der Junge innerhalb weniger Jahre ein Dutzend Menschen umgebracht hatte.

Noch widerwärtiger war, dass wir ihm dafür die Lizenz erteilt hatten.

Swetlana wusste, woran ich dachte. Sie streichelte meine Hand. »Nimm's nicht so schwer«, sagte sie leise. »Er kann nicht gegen seine Natur handeln. Was hättest du tun sollen? Ihn ermorden?«Ich nickte.

Natürlich hätte ich das niemals fertig gebracht. Aber das wollte ich nicht einmal mir selbst eingestehen.

Leise ging die Tür auf, und Geser, Sebulon, Edgar und Kostja kamen herein. Und Olga. Angesichts der Tatsache, dass sie alle

lebhaft miteinander diskutierten, musste Olga schon im Bilde sein.

»Edgar hat erlaubt, Reserveleute hinzuzuziehen…«, sagte Swetlana leise. »Die Sache sieht nicht gut aus.«

Die Magier kamen an unseren Tisch. Mir fiel auf, wie alle rasch den Blick über den»Kompass«gleiten ließen. Kostja ging zum Tresen und bestellte ein Glas Rotwein. Die Frau dahinter lächelte ihn an. Ob er seinen vampirischen Charme spielen ließ oder ob er ihr einfach gefiel? Ach, Frau… du solltest diesen Jungen nicht anlächeln, der sonst was bei dir hervorruft: Mutterinstinkte oder durch und durch weibliche Gefühle. Denn dieser Junge kann dich so küssen, dass dir das Lächeln für ewig auf dem Gesicht gefriert…

»Kostja und die Inquisitoren haben alle Schließfächer durchsucht«, sagte Geser. »Nichts.«

»Wir haben den ganzen Bahnhof durchgekämmt«, berichtete Sebulon mit freundlichem Lachen. »Sechs Andere, die ganz klar nichts mit der Sache zu tun haben.«

»Und ein nicht initiiertes Mädchen…«, fügte Olga hinzu, das Lächeln erwidernd. »Ja, ja, das habe ich bemerkt. Um sie werden wir uns später noch kümmern.«

Sebulon lächelte noch breiter - ich musste im Cafe des Lächelns gelandet sein. »Tut mir leid, Große, aber um sie kümmert man sich gerade.«

In einer normalen Situation wäre das Gespräch an diesem Punkt erst richtig losgegangen!

»Es reicht, Ihr Großen!«, brüllte Edgar. »Es geht hier nicht um eine potenzielle Andere. Es geht hier um unsere Existenz!«

»Völlig richtig«, pflichtete ihm Sebulon bei. »Wollen Sie mir nicht helfen, Boris Ignatjewitsch?«

Geser und er rückten einen weiteren Tisch an unseren heran. Kostja schleppte schweigend Stühle herbei, und dann saßen wir alle beieinander. Eine ganz normale Sache: Menschen fahren in den Urlaub oder gehen auf Geschäftsreise, schlagen vorher im Bahnhofscafe die Zeit tot…

»Entweder ist er nicht hier, oder er kann sich sogar vor uns tarnen«, sagte Swetlana. »So oder so würde ich darum bitten, mich zurückziehen zu dürfen. Wenn etwas sein sollte, ruft mich einfach.«

»Mit deiner Tochter ist alles in Ordnung«, krächzte Sebulon. »Da gebe ich dir mein Wort drauf. »

»Wir könnten dich brauchen«, unterstützte Geser ihn. Swetlana seufzte.

»Geser, wirklich, lassen Sie Swetlana gehen«, bat ich. »Ihnen ist doch klar, dass es nicht Kraft ist, die wir jetzt brauchen. »

»Sondern?«, wollte Geser wissen.

»Gerissenheit und Geduld. Was das Erste angeht, da sind Sie und Sebulon unschlagbar. Und das Zweite dürfen Sie von einer besorgten Mutter niemals erwarten.«

Geser schüttelte den Kopf und schielte zu Olga hinüber. Die kaum merklich nickte.

»Fahr zu deiner Tochter, Sweta«, sagte Geser. »Du hast Recht. Wenn was ist, ruf ich dich und hänge dir ein Portal auf.«

»Dann gehe ich mal«, sagte Swetlana. Kurz beugte sie sich zu mir rüber, berührte mit den Lippen meine Wange - und löste sich in Luft auf. Das Portal war so winzig, dass ich es nicht mal bemerkt hatte.

Die Menschen im Cafe hatten das Verschwinden Swetlanas überhaupt nicht mitbekommen. Für sie waren wir unsichtbar, denn sie wollten uns nicht sehen.

»Sie ist stark«, sagte Sebulon. Er streckte die Hand aus, nahm sich Kostjas Glas, das der Vampir nicht angerührt hatte, und nippte daran. »Du wirst wissen, was du tust, Geser… Was weiter, Herr Inquisitor?«

»Wir warten«, antwortete Edgar bloß. »Er wird kommen, um das Buch zu holen.«

»Oder sie«, korrigierte Sebulon ihn. »Oder sie…«

Wir bildeten keinen operativen Stab. Sondern saßen einfach im Cafe, aßen etwas, tranken etwas. Kostja bestellte Fleisch á la Tatar. Die Tresenfrau wollte sich schon wundern, flitzte aber nur sofort in die Küche. Kurz darauf sprang ein junger Mann heraus und lief los, um Fleisch zu besorgen.

Geser bestellte Hühnchen nach Kiewer Art. Die übrigen begnügten sich mit Wein, Bier und Kleinigkeiten wie getrockneten Tintenfischringen und Pistazien.

Ich saß da, beobachtete, wie Kostja das fast rohe Fleisch verputzte, und dachte über das Verhalten des unbekannten Täters nach. »Suchen Sie das Motiv!«, hatte Sherlock Holmes uns beigebracht. Wenn wir das Motiv finden, haben wir auch den Täter. Sein Ziel besteht nicht darin, der allerstärkste Andere zu werden. Das war er schon oder konnte er jeden Moment werden. Was sonst? Erpressung? Das wäre dumm. Er würde nicht beiden Wachen und der Inquisition seinen Willen aufzwingen können, sondern das gleiche Schicksal nehmen wie Fuaran… Vielleicht wollte der Täter eine eigene, alternative Organisation von Anderen gründen? In Petersburg war in diesem Frühling die Organisation der»Wilden Dunklen«zerschlagen worden… Mit großer Mühe. Das schlechte Beispiel könnte Schule gemacht, ansteckend auf jemanden gewirkt haben. Und das Schlimmste: Das konnte sogar ein Lichter sein. Der eine neue Nachtwache gründen wollte. Eine Superwache. Um die Dunklen samt und sonders zu vernichten, die Inquisition zu zerschlagen und einen Teil der Lichten auf die eigene Seite zu ziehen…

Schlecht. Sehr schlecht - falls es stimmen sollte. Die Dunklen würden sich nicht ohne Kampf ergeben. In der Welt von heute, die mit Massenvernichtungswaffen, Chemiefabriken und Kernkraftwerken gespickt ist,

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