»Gut, und wie weiter?«, fragte ich. »Wie können denn dann die unabhängigen Wachen Russlands und beispielsweise die Litauens zusammenarbeiten? Oder die Russlands, Litauens, der USA und Ugandas? In der Menschenwelt ist das alles klar: Wer den größeren Knüppel und das dickere Portemonnaie hat, der bestellt auch die Musik. Aber die russischen Wachen sind größer als die amerikanischen! Ich glaube sogar…«

»Die stärkste Wache ist die französische«, erklärte Geser mit gelangweilter Stimme. »Stark, aber extrem faul. Ein erstaunliches Phänomen. Wir können nicht begreifen, worauf es zurückzuführen ist - doch wohl nicht auf den Genuss von trockenem Wein und Austern in unvorstellbaren Mengen…«

»Die Inquisition regiert die Wachen«, sagte ich. »Sie entscheidet keine Streitigkeiten, bestraft keine Aussteiger, sondern regiert. Sie gibt die Erlaubnis für verschiedene gesellschaftliche Experimente, bestimmt und entlässt die Chefs… versetzt jemanden von Usbekistan nach Moskau… Es gibt eine Inquisition, und die hat zwei Arbeitsorgane. Die Nachtwache und die Tagwache. Und das einzige Ziel der Inquisition besteht im Erhalt des gegenwärtigen Status quo. Deshalb wäre ein Sieg der Dunklen genauso wie einer der Lichten eine Niederlage für die Inquisition als solche.«

»Und weiter, Anton?«, fragte Geser. Ich zuckte mit den Achseln.

»Weiter? Nichts weiter. Die Menschen leben ihr kleines Menschenleben. Freuen sich an den kleinen Menschenfreunden. Ernähren uns mit ihrer Energie… und liefern neue Andere. Die Anderen, die nicht so ehrgeizig sind, führen weiterhin ein fast normales Leben. Nur dass es satter, gesünder und länger ist als das von normalen Menschen. Wer unbedingt Auseinandersetzungen und Abenteuer braucht, Ideale und Kampf in seinem Leben haben will, kommt in die Wache. Wer sein Vertrauen in die Wache verliert, geht zur Inquisition. »

»Ja und?«, ermunterte mich Geser.

»Was machen Sie dann noch in der Nachtwache, Chef?«, fragte ich. »Haben Sie es nicht über… nach Tausenden von Jahren?«

»Nehmen wir einmal an, dass mir die Auseinandersetzungen und Abenteuer immer noch gefallen«, gab Geser zu bedenken. »Was dann?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Boris Ignatjewitsch. Das glaube ich nicht. Ich habe Sie schon… anders gesehen. Zu müde. Zu enttäuscht.«

»Dann gehen wir halt davon aus, dass ich trotz allem noch mit Sebulon abrechnen will«, sagte Geser ruhig.

Ich dachte kurz darüber nach. »Das kann auch nicht sein. In all den Jahrhunderten… da hätte einer von Ihnen den andern schon längst erledigt haben können. Sebulon hat gerade gesagt, dass die Magie wie ein Stoß mit einem Degen ist. Sie kämpfen jedoch gar nicht mit Degen, sondern mit Sportfloretts. Sie deuten den Stoß an, spießen den Feind aber nicht auf.«

Nach kurzem Zögern nickte Geser. Abermals ergoss sich dichter Qualm in die nebelgraue Rauchwolke.

»Was denkst du, Anton, kann man Jahrtausende leben und die Menschen nach wie vor bedauern? »

»Bedauern?«, fragte ich zurück.

Geser nickte. »Ja, bedauern. Nicht lieben, denn es steht nicht in unseren Kräften, die ganze Welt zu lieben. Nicht bewundern, denn wir wissen nur zu gut, was das ist, ein Mensch.«

»Bedauern kann man sie vermutlich«, sagte ich. »Aber wozu brauchen sie Ihr Mitleid, Chef? Es ist leer und unfruchtbar. Die Anderen machen diese Welt nicht besser.«

»Das machen wir, Anton. Wie auch immer sie jetzt ist, aber genau das tun wir. Glaub einem alten Mann, der schon viel gesehen hat. »

»Aber trotzdem…»

»Ich warte auf ein Wunder, Anton.«Fragend sah ich Geser an.

»Ich weiß nicht, auf was für eins. Dass alle Menschen die Fähigkeiten von Anderen bekommen. Dass die Anderen wieder zu Menschen werden. Dass irgendwann die Teilung nicht nach»Mensch oder Anderen«vorgenommen wird, sondern nach»gut oder schlecht«.«Geser lächelte sanft. »Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie das vor sich gehen sollte und ob es irgendwann dazu kommt. Aber wenn…, dann würde ich es vorziehen, auf der Seite der Nachtwache zu stehen. Und nicht in der Inquisition zu sein, dieser starken, weisen, gerechten, allmächtigen Inquisition. »

»Ob Sebulon auf dasselbe wartet?«, fragte ich.

»Vielleicht«, antwortete Geser. »Ich weiß es nicht. Aber lieber habe ich es mit einem alten Feind zu tun, den ich kenne, als mit einem jungen, unberechenbaren Dummkopf. Halte mich für konservativ, aber die Sportfloretts und Sebulon sind mir lieber als ein Baseballschläger und ein progressiver Dunkler Magier. »

»Und was raten Sie mir?«

»Was ich dir rate?«Geser breitete die Arme aus. »Dass du selbst eine Entscheidung triffst. Du kannst uns verlassen und ein normales Leben führen. Du kannst in die Inquisition wechseln… Ich würde dich nicht daran hindern. Und du kannst in der Nachtwache bleiben. »

»Und warten?«

»Und warten. In dir das Menschliche bewahren, das noch da ist. Dich weder zu Ekstase noch zu Rührung hinreißen lassen, indem du den Menschen ein Licht bringst, das sie nicht wollen. Nicht in Zynismus und Misstrauen verfallen und dich nicht selbst für rein und vollkommen halten. Und das Schwierigste: nicht verzagen, den Glauben nicht verlieren, nicht gleichgültig werden. »

»Keine große Auswahl…«, sagte ich.

»Ha!«Geser lächelte. »Sei froh, dass du überhaupt eine hast.«

Draußen blitzte der Stadtrand von Saratow auf. Der Zug wurde langsamer.

Ich saß in einem leeren Abteil und sah auf die kreisende Nadel.

Kostja folgte uns weiter.

Worauf wartete er?

In den Kopfhörern erklang die Stimme von Arbenin:

Zwischen Verrat und Ruchlosigkeit Nur Manna vom Himmel schneit. Von einer Siesta zur nächsten Man uns abfüttert mit Manifesten. Einer stirbt, einer verschwindet, Damit meine Wahl auch schon endet. Doch mein siebter Sinn, der flüstert mir: Wir sind nicht wie alle, Anders sind wir.

Ich schüttelte den Kopf. Wir sind die Anderen. Doch selbst wenn es uns nicht gäbe, würden die Menschen sich und andere gegeneinander abgrenzen. Was auch immer diese Anderen dann ausmachen würde.

Die Menschen können ohne Andere nicht auskommen. Setze zwei Menschen auf einer unbewohnten Insel aus, dann wird einer ein Mensch und einer ein Anderer. Und der Unterschied besteht darin, dass der Andere immer unter seinem Anderssein leidet. Die Menschen haben es leichter. Sie haben keine Komplexe. Sie wissen, dass sie Menschen sind - und das auch sein sollen. Dass alle das sein sollen. Alle. Für immer.

Wir stehen in der Mitte der Gleise,
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