ersparen Sie ihm unnötige Demütigungen.«

»Herr Doktor Fabien«, erwiderte V. mit der größten Höflichkeit, »einem Mann wie Ihnen habe ich nichts abzuschlagen. Ich hörte, daß dieser Mensch Sie bat, ihn bis zur Polizei zu begleiten. Gut, wenn Sie einwilligen, steige ich mit Ihnen in den Wagen, und die Dinge gehen ganz sanft ab.«

»Doktor, ich flehe Sie an«, sprach der Vicomte.

»Gut, es sei«, sagte ich, »ich werde Ihrem Wunsch entsprechen. Herr V., haben Sie die Güte, einen Wagen holen zu lassen.«

»Und lassen Sie ihn vor die Tür fahren, die zur Rue du Helder geht«, rief der Vicomte.

V. gebot einem seiner Untergebenen, einen Wagen zu besorgen.

»Mittlerweile«, sprach V., »werde ich mit der Erlaubnis des Herrn Vicomte seinen Sekretär ein wenig durchsuchen.«

Der Vicomte machte eine Bewegung zum Sekretär hin.

»Oh, bemühen Sie sich nicht, Herr Vicomte«, sagte V., den Arm ausstreckend, »wenn sich einige Scheine darin finden, so wäre das nicht mehr und nicht weniger; wir haben schon wenigstens hundert, die aus Ihrer Fabrik hervorgegangen sind.«

Der Gefangene sank auf einen Stuhl nieder, und V. begann den Sekretär zu durchsuchen.

»Ich kenne diese Sekretäre, sie sind aus der Werkstatt Barthelemys. Betrachten wir zuerst die Schubladen und dann die Geheimfächer.«

Und er durchwühlte alle Schubladen, in denen sich außer dem erwähnten Portefeuille nichts fand als Briefe.

»Nun die Geheimfächer«, sagte er.

Der Vicomte erbleichte und errötete abwechselnd, während er V. mit den Augen folgte.

Ich bewunderte die Geschicklichkeit dieses Mannes. Es waren in dem Sekretär vier verschiedene Geheimfächer, und es entging ihm nicht nur keines davon, sondern er entdeckte den Mechanismus auf der Stelle, ohne erst suchen zu müssen.

»Hier ist der Rosentopf«, sagte er, indem er etwa hundert Banknoten von fünfhundert und tausend Franc zusammenpackte.

»Pest! Herr Vicomte, Sie sind nicht mit einer toten Hand zu Werk gegangen; vier Burschen wie Sie, und im Verlauf eines Jahres wäre die Bank gesprengt.«

Der Vicomte antwortete nur durch einen tiefen Seufzer und indem er den Kopf in den Händen verbarg.

In diesem Augenblick kam der von V. weggeschickte Polizist zurück.

»Meine Herren, der Wagen steht vor der Tür«, meldete er.

»Dann vorwärts«, sprach V.

»Aber Sie sehen«, unterbrach ich ihn, »der Herr ist im Schlafrock, und Sie können ihn so nicht mitnehmen.«

»Ja, ja«, rief der Vicomte, »ich muß mich ankleiden.«

»Kleiden Sie sich also an, und beeilen Sie sich. Ich hoffe, wir sind artig, wie? Es ist wahr, wir tun es nicht Ihretwegen, sondern dem Herrn Doktor zuliebe.«

Und er wandte sich zu mir und verbeugte sich.

Doch statt die ihm gegebene Erlaubnis zu benutzen, blieb der Vicomte unbeweglich auf seinem Stuhl sitzen.

»Nun, nun! Rühren wir uns ein wenig, und zwar rascher. Wir haben um neun Uhr einen anderen Herrn einzufangen, und des einen wegen darf der andere nicht verfehlt werden.«

Gabriel öffnete den Schrank, in dem seine Röcke hingen; doch er nahm fünf oder sechs herab, ohne sich zu einem zu entschließen.

»Mit der Erlaubnis des Herrn Vicomte werden wir ihm als Kammerdiener zur Seite stehen«, sagte V., und er machte den Polizisten ein Zeichen, worauf diese aus einer Kommode eine Weste und eine

Halsbinde nahmen, während er selbst im Schrank einen Oberrock wählte.

Dann begann die seltsamste Toilette, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Auf seinen Beinen wankend, ließ der Gefangene mit sich machen, was man wollte, und heftete nur erstaunte Blicke auf jeden von uns.

Man band ihm sein Halstuch um, man zog ihm seine Weste und seinen Rock an, als wäre er eine Gliederpuppe, dann setzte man ihm den Hut auf den Kopf und schob ihm ein Stöckchen mit goldenem Knopf in die Hand. Man hätte glauben sollen, er müßte niederfallen, wenn man ihn nicht stützte.

Die zwei Polizisten nahmen ihn jeder unter einer Achsel, und jetzt erst schien er zu erwachen.

»Nein, nein!« rief er, sich an meinen Arm klammernd. »Sie haben es mir versprochen, Doktor.«

»Ja«, versetzte ich, »kommen Sie.«

»Herr Vicomte«, sprach V., »ich sage Ihnen im voraus, wenn Sie eine Bewegung machen, um zu fliehen, zerschmettere ich Ihnen die Hirnschale.«

»Habe ich Ihnen nicht mein Ehrenwort gegeben, daß ich nicht entweichen werde?« sagte er, indem er seine Feigheit unter einem Gefühl ehrenhaften Anscheins zu verdecken suchte.

»Ah, es ist wahr«, versetzte V., während er seine Pistolen spannte, »ich hatte es vergessen. Vorwärts!«

Wir gingen die Treppe hinab, der Unglückliche stützte sich jetzt auf meinen Arm, und V. folgte mit seinen zwei Polizisten.

Als wir in den Hof kamen, eilte einer von ihnen auf den Wagen zu und öffnete den Schlag.

Ehe er einstieg, warf der Gefangene einen scheuen Blick nach rechts und links, als wollte er sehen, ob keine Flucht möglich wäre.

Doch in diesem Augenblick fühlte er, daß man ihm etwas zwischen die Schultern setzte; er wandte sich um: Es war der Lauf der Pistole.

Mit einem Sprung stürzte er in den Wagen.

V. bedeutete mir durch ein Zeichen, ich möge einsteigen und den Hintersitz einnehmen.

Es war nicht die geeignete Zeit, Zeremonien zu machen. Ich setzte mich auf den Platz, der mir angewiesen war.

V. sagte auf Rotwelsch ein paar Worte zu seinen Polizisten, die ich nicht verstand, stieg ebenfalls ein und setzte sich auf den Vordersitz.

Der Kutscher schloß den Schlag und fragte: »Zur Polizeipräfektur, nicht wahr, mein Herr?«

»Ja«, antwortete V., »doch woher wissen Sie, wohin wir wollen, mein Freund?«

»Nun, ich habe Sie erkannt«, sagte der Kutscher, »es ist schon das drittemal, daß ich Sie fahre, und stets in Gesellschaft.«

»Da baue man noch auf ein Inkognito«, versetzte V.

Der Wagen rollte den Boulevard entlang, dann die Rue de Richelieu, erreichte den Pont-Neuf, folgte dem Quai des Orfevres, wandte sich nach rechts, fuhr unter ein Gewölbe, drang in eine Art von Gäßchen und hielt vor einer Tür.

Jetzt erst schien der Gefangene aus seiner Erstarrung zu erwachen, auf dem ganzen Weg hatte er kein Wort gesprochen. »Wie«, rief er, »schon da!«

»Ja, Herr Vicomte«, sagte V., »das ist Ihre provisorische Wohnung, sie ist weniger elegant als die in der Rue Taitbout, doch in Ihrem Gewerbe muß man mit Veränderungen rechnen und Philosoph sein.«

Nun öffnete er den Schlag und sprang aus dem Wagen.

»Haben Sie mir noch einen Auftrag zu geben, ehe ich Sie verlasse?« fragte ich den Gefangenen.

»Ja, ja«, erwiderte er, »sie soll nicht erfahren, was vorgefallen ist.«

»Wer, sie?«

»Marie.«

»Die arme Frau! Ich hatte sie vergessen. Seien Sie unbesorgt, ich werde tun, was ich kann, um ihr die Wahrheit zu verbergen.«

»Ich danke, ich danke Ihnen, Doktor. Ach, ich wußte wohl, daß Sie mein einziger Freund sind.«

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