der Gesammt-Gesundheit von Volk, Zeit, Rasse, Menschheit nachzugehn hat — einmal den Muth haben wird, meinen Verdacht auf die Spitze zu bringen und den Satz zu wagen: bei allem Philosophiren handelte es sich bisher gar nicht um Wahrheitg, sondern um etwas Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, Leben…
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— Man errath, dass ich nicht mit Undankbarkeit von jener Zeit schweren Siechthums Abschied nehmen mochte, deren Gewinn auch heute noch nicht fur mich ausgeschopft ist: so wie ich mir gut genug bewusst bin, was ich uberhaupt in meiner wechselreichen Gesundheit vor allen Vierschrotigen des Geistes voraus habe. Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebensoviele Philosophien hindurchgegangen: er kann eben nicht anders als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umzusetzen, — diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie. Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen, wie das Volk trennt, es steht uns noch weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen. Wir sind keine denkenden Frosche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden, — wir mussen bestandig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebaren und mutterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhangniss in uns haben. Leben — das heisst fur uns Alles, was wir sind, bestandig in Licht und Flamme verwandeln, auch Alles, was uns trifft, wir konnen gar nicht anders. Und was die Krankheit angeht: wurden wir nicht fast zu fragen versucht sein, ob sie uns uberhaupt entbehrlich ist? Erst der grosse Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, als der Lehrmeister des grossen Verdachtes, der aus jedem U ein X macht, ein achtes rechtes X, das heisst den vorletzten Buchstaben vor dem letzten… Erst der grosse Schmerz, jener lange langsame Schmerz, der sich Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie mit grunem Holze verbrannt werden, zwingt uns Philosophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen, alles Gutmuthige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem unsre Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu thun. Ich zweifle, ob ein solcher Schmerz» verbessert«—; aber ich weiss, dass er uns vertieft. Sei es nun, dass wir ihm unsern Stolz, unsern Hohn, unsre Willenskraft entgegenstellen lernen und es dem Indianer gleichthun, der, wie schlimm auch gepeinigt, sich an seinem Peiniger durch die Bosheit seiner Zunge schadlos halt; sei es, dass wir uns vor dem Schmerz in jenes orientalische Nichts zuruckziehn — man heisst es Nirvana —. in das stumme, starre, taube Sich-Ergeben, Sich-Vergessen, Sich-Ausloschen: man kommt aus solchen langen gefahrlichen Uebungen der Herrschaft uber sich als ein andrer Mensch heraus, mit einigen Fragezeichen mehr, vor Allem mit dem Willen, furderhin mehr, tiefer, strenger, harter, boser, stiller zu fragen als man bis dahin gefragt hatte. Das Vertrauen zum Leben ist dahin — das Leben selbst wurde zum Problem. — Moge man ja nicht glauben, dass Einer damit nothwendig zum Dusterling geworden sei! Selbst die Liebe zum Leben ist noch moglich, — nur liebt man anders. Es ist die Liebe zu einem Weibe, das uns Zweifel macht… Der Reiz alles Problematischen, die Freude am X ist aber bei solchen geistigeren, vergeistigteren Menschen zu gross, als dass diese Freude nicht immer wieder wie eine helle Gluth uber alle Noth des Problematischen, uber alle Gefahr der Unsicherheit, selbst uber die Eifersucht des Liebenden zusammenschluge. Wir kennen ein neues Gluck….
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Zuletzt, dass das Wesentlichste nicht ungesagt bleibe: man kommt aus solchen Abgrunden, aus solchem schweren Siechthum, auch aus dem Siechthum des schweren Verdachts, neu-geboren zuruck, gehautet, kitzlicher, boshafter, mit einem feineren Geschmacke fur die Freude, mit einer zarteren Zunge fur alle guten Dinge, mit lustigeren Sinnen, mit einer zweiten gefahrlicheren Unschuld in der Freude, kindlicher zugleich und hundert Mal raffinirter als man jemals vorher gewesen war. Oh wie Einem nunmehr der Genuss zuwider ist, der grobe dumpfe braune Genuss, wie ihn sonst die Geniessenden, unsre» Gebildeten«, unsre Reichen und Regierenden verstehn! Wie boshaft wir nunmehr dem grossen Jahrmarkts-Bumbum zuhoren, mit dem sich der» gebildete Mensch «und Grossstadter heute durch Kunst, Buch und Musik zu» geistigen Genussen«, unter Mithulfe geistiger Getranke, nothzuchtigen lasst! Wie uns jetzt der Theater-Schrei der Leidenschaft in den Ohren weh thut, wie unsrem Geschmacke der ganze romantische Aufruhr und Sinnen-Wirrwarr, den der gebildete Pobel liebt, sammt seinen Aspirationen nach dem Erhabenen, Gehobenen, Verschrobenen fremd geworden ist! Nein, wenn wir Genesenden uberhaupt eine Kunst noch brauchen, so ist es eine andre Kunst — eine spottische, leichte, fluchtige, gottlich unbehelligte, gottlich kunstliche Kunst, welche wie eine helle Flamme in einen unbewolkten Himmel hineinlodert! Vor Allem: eine Kunst fur Kunstler, nur fur Kunstler! Wir verstehn uns hinterdrein besser auf Das, was dazu zuerst noth thut, die Heiterkeit, jede Heiterkeit, meine Freunde! auch als Kunstler —: ich mochte es beweisen. Wir wissen Einiges jetzt zu gut, wir Wissenden: oh wie wir nunmehr lernen, gut zu vergessen, gut nicht-zu-wissen, als Kunstler! Und was unsere Zukunft betrifft: man wird uns schwerlich wieder auf den Pfaden jener agyptischen Junglinge finden, welche Nachts Tempel unsicher machen, Bildsaulen umarmen und durchaus Alles, was mit guten Grunden verdeckt gehalten wird, entschleiern, aufdecken, in helles Licht stellen wollen. Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur» Wahrheit um jeden Preis«, dieser Junglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit — ist uns verleidet: dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief… Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu glauben. Heute gilt es uns als eine Sache der Schicklichkeit, dass man nicht Alles nackt sehn, nicht bei Allem dabei sein, nicht Alles verstehn und» wissen «wolle.»Ist es wahr, dass der liebe Gott uberall zugegen ist?«fragte ein kleines Madchen seine Mutter:»aber ich finde das unanstandig«— ein Wink fur Philosophen! Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Rathsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Grunde hat, ihre Grunde nicht sehn zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?… Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberflache, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Tone, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflachlich — aus Tiefe! Und kommen wir nicht eben darauf zuruck, wir Wagehalse des Geistes, die wir die hochste und gefahrlichste Spitze des gegenwartigen Gedankens erklettert und uns von da aus umgesehn haben, die wir von da aus hinabgesehn haben? Sind wir nicht eben darin — Griechen? Anbeter der Formen, der Tone, der Worte? Eben darum — Kunstler?
Ruta bei Genua, im Herbst 1886.
«Scherz, List und Rache.»
Vorspiel in deutschen Reimen