»Was ist, wenn …«

»Still!« Philip neigt den Kopf zur Seite und horcht angespannt. Sein Gesichtsausdruck wirkt steinern. »Hier entlang. Kommt mit!«

Philip fuhrt die Gruppe den steinigen Abhang an der nordlichen Seite des Autobahnkreuzes hinab. Alle passen auf, um auf dem nassen Schotter nicht ins Rutschen zu kommen. Als Nachhut geht Brian die Boschung hinab und lasst sich die Spielregeln noch einmal durch den Kopf gehen. Haben sie vielleicht gerade einen Menschen im Stich gelassen?

Er hangt dem Gedanken nicht lange nach, als einer nach dem anderen von den finsteren Tiefen der verwusteten Landschaft geschluckt wird.

Kurz darauf stehen sie auf einer zweispurigen Stra?e namens Miller Road, die in nordlicher Richtung durch die Dunkelheit fuhrt. Fur die nachsten zwei Kilometer kommen sie an dunn besiedelten Gewerbegebieten, desolaten Industrieparks und Werkstatten mit seltsamen Schildern vorbei: Barloworld Handling, Atlas Tool and Die, Hughes Supply, Simcast Electronics, Peachtree Steel. Das rhythmische Widerhallen ihrer Schritte auf dem kalten Asphalt vermischt sich mit ihrem angestrengten Keuchen. Die Stille, die sonst uberall herrscht, fangt langsam an, mit ihren Nerven zu spielen. Penny ist mude. Plotzlich horen sie rechts ein Rascheln, das zwischen den Baumen hervorkommt.

Philip deutet auf ein langes, niedriges Gebaude in der Ferne. »Das da passt«, verkundet er leise.

»Passt? Wozu soll es passen?«, will Nick wissen und stellt sich keuchend neben Philip.

»Dort verbringen wir die Nacht«, antwortet dieser emotionslos.

Dann fuhrt er die Gruppe vorbei an einem niedrig hangenden, unbeleuchteten Schild: GEORGIA PACIFIC CORPORATION.

Philip steigt durch ein Burofenster ein, wahrend sich die anderen im Schatten des Eingangs zusammenkauern und warten, bis er sich durch die leeren, verwusteten Korridore zum Lager in der Mitte des Gebaudes durchgekampft hat.

Die Gange sind so duster wie eine Krypta. Philips Herz schlagt ihm bis zum Hals, wahrend er mit erhobener Axt durch die Flure schleicht. Er versucht einen der Lichtschalter anzumachen, jedoch ohne Erfolg. Den penetranten Geruch von Zellstoff bemerkt er kaum – es stinkt nach feuchtem Losemittel und Klebstoff –, und als er endlich die Sicherheitsturen erreicht, sto?t er sie vorsichtig mit der Stiefelspitze Zentimeter um Zentimeter auf.

Die Lagerhalle ist etwa so gro? wie eine Flugzeughalle – voll riesiger Geruste, die bis an die Decke ragen. Dort hangen gro?e Lampen. Der Geruch von Papier liegt in der Luft. Etwas Mondlicht dringt durch die gewaltigen Dachfenster. Auf dem Boden stehen reihenweise Papierrollen, so breit wie der Stamm eines Mammutbaums. Ihr helles Wei? scheint in der Finsternis zu leuchten.

Etwas bewegt sich.

Philip steckt die Axt in den Gurtel zuruck und fasst nach der Ruger. Er zieht die Waffe aus der Hose, entsichert sie, legt an und zielt auf die dunkle Gestalt, die hinter einem Stapel Paletten hervorkommt und auf ihn zuwankt. Der Fabrikarbeiter nahert sich langsam, aber offensichtlich hungrig. Der Latz seiner Hose ist voller Blut und Gallensaft, und seine Zahne funkeln im Mondlicht.

Ein Schuss – und das Geschopf liegt am Boden. Der Knall hallt von den Wanden der gro?en Halle wie ein Kesselpaukenschlag wider.

Philip blickt sich um. Er sucht den Rest der Lagerhalle mit den Augen ab und entdeckt zwei weitere Zombies: einen dicken, alten Mann – seine schmutzige Uniform lasst vermuten, dass er hier Nachtwachter war – und einen jungeren Untoten. Beide tauchen plotzlich hinter einem der Regale auf.

Philip verspurt keine Reue, als er erst dem einen und dann dem anderen eine Kugel aus kurzer Distanz in den Schadel jagt.

Als er sich wieder zum Vordereingang aufmacht, entdeckt er einen vierten Zombie zwischen zwei riesigen Papierrollen. Die untere Halfte des ehemaligen Gabelstaplerfahrers ist zwischen den blendend wei?en Zylindern eingeklemmt. Seine Korperflussigkeiten haben eine Pfutze gebildet, die bereits gerinnt, wahrend die obere Halfte noch zuckt und mit milchig wei?en Augen panisch umherblickt.

»He, Kollege. Was ist los?«, fragt Philip und nahert sich mit der Pistole an der Hufte. »Die Arbeit bringt nur Scherereien – was?«

Der Zombie schnappt machtlos nach der Luft zwischen ihm und Philip.

»Es ist wohl an der Zeit, dass endlich die Mittagspause kommt.«

Erneut schlagen die Zahne aufeinander.

»Friss das hier.«

Der Knall des Zweiundzwanziger-Kalibers hallt laut, als sich die Kugel durch die Schadeldecke bohrt. Die Augen, gerade noch milchig wei?, sind mit einem Schlag schwarz. Der Fetzen eines Scheitellappens fliegt durch die Luft, und die Mischung aus Blut, Gewebe und Hirnruckenmarksflussigkeit beschmutzt die makellos reinen wei?en Papierrollen, als die obere Halfte der Kreatur in sich zusammensackt.

Philip starrt eine Zeit lang auf sein Werk – scharlachrote Ranken breiten sich auf dem blutenwei?en Untergrund aus –, ehe er sich seiner eigentlichen Aufgabe besinnt und die anderen hereinholt.

Sieben

Sie verbringen die Nacht in dem glasernen Buro eines Vorarbeiters hoch uber dem Boden der Georgia- Pacific-Lagerhalle. Sie schalten ihre batteriebetriebenen Laternen an und schieben die Schreibtische und Stuhle beiseite, um auf dem Linoleumboden Platz fur ihre Schlafmatten zu machen.

Der ehemalige Buroinhaber hatte sich gut eingerichtet. Vielleicht wohnte er sogar in diesem nicht einmal zwanzig Quadratmeter gro?en Zimmer, denn es gibt CDs, eine Stereoanlage, einen Mikrowellenherd, einen kleinen Kuhlschrank mit verfaulten Lebensmitteln, Schubladen voller Su?igkeiten, Werksauftrage, halb leere Flaschen Alkoholika, frische Hemden, Zigaretten, Scheckbucher und Pornohefte.

Philip macht die ganze Nacht kaum den Mund auf. Er sitzt neben einem der Fenster, von wo aus man die Halle uberblicken kann, und nimmt ab und zu einen Schluck aus der kleinen Whiskeyflasche, die er in einem Schreibtisch gefunden hat. Nick hat es sich in der gegenuberliegenden Ecke bequem gemacht und liest in einer kleinen Bibel im Licht seiner Laterne. Er behauptet, dass er das ledergebundene Buchlein mit Tausenden von Eselsohren stets bei sich truge, doch bisher hatte ihn niemand jemals darin lesen sehen.

Brian isst etwas Thunfisch und Kracker. Als er Penny etwas anbietet, lehnt sie ab. Sie scheint sich mehr und mehr in sich zuruckzuziehen. Ihre Augen blicken starr vor sich hin. Brian legt sich neben sie, wahrend Philip auf einem Burosessel vor dem verschmutzten, vergitterten Fenster vor sich hin dost – wie sicher schon der Vorarbeiter vor ihm, der wohl nach Faulenzern und Druckebergern Ausschau hielt. Es ist das erste Mal fur Brian, seinen Bruder so sehr in Gedanken versunken zu sehen, dass er sich um seine Tochter kein einziges Mal kummert. Kein gutes Zeichen.

Am nachsten Tag wachen sie durch lautes Hundegebell von drau?en auf.

Fahles Licht scheint durch die hohen Fenster. Eilig packen sie Taschen und Rucksacke. Keiner hat Appetit auf Fruhstuck, sondern alle wandern schnurstracks ins Badezimmer, verbinden ihre Fu?e, um sich gegen Blasen zu wappnen, und ziehen ein weiteres Paar Socken an. Brians Ferse ist bereits wund von den Kilometern, die sie gestern zuruckgelegt haben. Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was heute vor ihnen liegt. Jeder hat Kleidung zum Wechseln dabei, aber keiner hat genugend Energie, sich auch umzuziehen.

Auf dem Weg nach drau?en vermeiden es alle au?er Philip, sich die abgeschlachteten Untoten genauer anzuschauen. Sie liegen in ihrem Blut uberall auf dem Hallenboden verstreut.

Nur Philip scheint fasziniert von den Leichen zu sein, die nun genau zu erkennen sind.

Als sie drau?en vor dem Eingang stehen, entdecken sie ein Rudel streunender Stra?enhunde etwa hundert Meter von ihnen entfernt. Die Tiere streiten sich um einen Haufen Fleisch. Als Philip und die anderen naher kommen, ziehen sich die Koter zuruck. Im Vorubergehen wirft Brian einen Blick auf die Uberreste und flustert Penny das Geheimwort zu: weg.

Es handelt sich um einen abgetrennten menschlichen Arm, der so ubel zugerichtet ist, dass man ihn eher einer zerfetzten Stoffpuppe zuordnen wurde, wenn man es nicht besser wusste.

»Schau da nicht hin, Kleines«, warnt Philip seine Tochter, und Brian zieht das Madchen an sich und legt ihm

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