Jay
Robert
TEIL 1
Die hohlen Manner
Sterben hat nichts Heldenhaftes.
Das kann jeder.
Eins
Brian Blake hat sich in der muffigen Dunkelheit in eine Ecke gekauert. Blankes Entsetzen schnurt ihm die Brust zu, der Schmerz lasst ihn bis ins Mark erzittern. Plotzlich stellt er sich vor, ein zweites Paar Hande zu haben. Dann konnte er sich zumindest die Ohren zuhalten, um nicht mit anhoren zu mussen, wie die menschlichen Schadel zu Brei gestampft werden. Leider sind Brians zwei Hande jedoch damit beschaftigt, die Ohren des kleinen Madchens neben ihm in der Abstellkammer zuzuhalten.
Die Siebenjahrige erzittert immer wieder in seinen Armen. Sie zuckt bei jedem BUMM BUMM BADONG zusammen. Den Gerauschen folgt Stille, lediglich durchbrochen von dem klebrig klingenden Stapfen von Stiefeln auf blutigen Fliesen und einem hektisch wutenden, klingenden Flustern aus dem Flur.
Brian fangt erneut an zu husten. Er kann nichts dafur. Seit Tagen schon kampft er gegen diese gottverdammte Erkaltung an, eine Plage, die seine Gelenke und Nebenhohlen lahmlegt und die er nicht abschutteln kann. Jeden Herbst erkaltet er sich, sobald die Tage in Georgia dunkel und duster werden. Die Feuchtigkeit dringt in seine Knochen, zehrt an seinen Kraften und raubt ihm den Atem. Inzwischen spurt er mit jedem Husten das pochende Stechen des Fiebers.
Bei jedem keuchenden Hustenanfall krummt er sich zusammen, presst die Hande aber weiterhin auf die Ohren der kleinen Penny. Er wei?, dass seine Hustgerausche hinter der Tur in den endlosen Gangen des Hauses bemerkt werden mussen, aber es gibt nichts, was er dagegen tun kann. Mit jedem unterdruckten Rocheln sieht er Lichtblitze vor seinen Augen – wie winzige Kometenschweife, die einem Feuerwerk gleich hinter seinen geschlossenen Lidern hin und her schie?en.
Die Abstellkammer, gerade einen Meter breit, ist schwarz wie Tinte und riecht nach Mottenkugeln, Mausedreck und altem Zedernholz. Kleidersacke aus Plastik hangen in der Dunkelheit und streifen immer wieder Brians Gesicht. Sein jungerer Bruder Philip hat ihm versichert, dass er in der Abstellkammer ruhig husten konne. In Wahrheit darf sich Brian hier ruhig die Lunge raushusten – das lockt die Monster aus ihren Verstecken –, doch er darf auf keinen Fall Philips Tochter anstecken. Sonst wurde Philip seinen Kopf mit einem Beil bearbeiten.
Der Hustenanfall ebbt ab.
Gleich darauf wird die Stille vor der Tur erneut von schwerem Stapfen durchbrochen. Noch eine tote Kreatur, die in die Killzone tritt. Brian presst die Hande fester auf Pennys Ohren. Sie zuckt trotzdem zusammen, als erneut zu horen ist, wie ein Schadel zerquetscht wird – diesmal in d-Moll.
Falls man Brian fragen wurde, wie man die Gerausche vor der Tur beschreiben konne, wurde er sich wahrscheinlich auf seine Zeit als Betreiber einer Musikalienhandlung berufen und die Schadelbruche mit einer Percussion-Symphonie vergleichen, die direkt aus der Holle kommt – etwa wie ein Stuck von Edgar Varese oder ein berauschtes Schlagzeugsolo von John Bonham – mit sich wiederholenden Leitmotiven und Refrains: dem schweren Atmen von Menschen … dem schwerfalligen Schlurfen eines lebenden Toten … der Axt, wie sie pfeifend durch die Luft schwingt … dem Gerausch des Stahls, wie er sich in menschliches Fleisch grabt …
… Und schlie?lich das gro?e Finale: das dumpfe Klatschen eines feuchtkalten, leblosen Korpers, der aufs glibberige Parkett aufschlagt.
Eine erneute Pause in dem grauenhaften Tohuwabohu lasst Brian bis ins Knochenmark erzittern. Die Stille legt sich erneut bleischwer auf sie. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewohnt haben, bemerkt er das Glitzern von dickflussigem Blut, das unter dem Turspalt durchsickert. Es sieht wie Motorol aus. Behutsam zieht er seine Nichte von der gro?er werdenden Lache weg und druckt sie gegen die Stiefel und Regenschirme, die an der Wand hinter ihnen stehen.
Der Saum von Pennys kleinem Jeanskleid beruhrt einen Moment lang das Blut. Rasch rei?t er es hoch und reibt panisch an dem Fleck, als ob die rote Flussigkeit irgendwie ansteckend sein konnte.
Ein weiterer krampfhafter Hustenanfall zwingt Brian in die Knie. Er kampft dagegen an und schluckt mit rauem Hals. Es kommt ihm so vor, als ob er Scherben hinunterwurgen wurde, wahrend er das kleine Madchen noch enger an sich druckt. Er wei? nicht, was er tun oder was er sagen soll. Er will seiner Nichte helfen, will ihr etwas Beruhigendes zuflustern. Doch er kann kein besanftigendes Wort finden.
Ihr Vater wurde wissen, was er jetzt sagen musste. Philip wurde es wissen. Er wei? immer, was er sagen muss. Philip Blake ist ein Mann, der stets genau das sagt, was allen anderen auch gerne eingefallen ware. Er spricht das aus, was ausgesprochen werden muss, und tut das, was getan werden muss. So wie jetzt. Jetzt ist er da drau?en mit Bobby und Nick und tut das, was getan werden muss … Wahrend Brian sich hier wie ein Angsthase zusammenkauert und den Kopf daruber zerbricht, was er seiner Nichte Beruhigendes sagen kann.
Angesichts der Tatsache, dass Brian Blake der altere der beiden Bruder ist, scheint es merkwurdig, dass er stets der Schwachere gewesen ist. Nicht einmal einen Meter siebzig gro? samt den Absatzen seiner Stiefel wirkt er wie eine Vogelscheuche von einem Mann, der es nicht einmal schafft, seine besonders enge Jeans und das schlampige Weezer-T-Shirt auszufullen. Ein mickriger Ziegenbart, Makramee-Armbander und dunkle Haare wie Ichabod Crane aus Sleepy Hollow vervollstandigen das Bild eines funfunddrei?igjahrigen Tagtraumers, der in einem Peter-Pan-Zustand stecken geblieben zu sein scheint und jetzt in der nach Mottenkugeln riechenden Abstellkammer auf die Knie sinkt.
Brian schnappt nach Luft und blickt zu Penny mit ihren weit aufgerissenen Augen. Ihr stummes, vor Entsetzen verzerrtes Gesicht leuchtet gespenstisch in der dunklen Kammer. Das Kind ist seit eh und je ein kleines, ruhiges Madchen mit milchig wei?er Haut gewesen – wie eine Puppe aus Porzellan –, die ihrem Gesicht stets etwas Unwirkliches verliehen hat. Seit dem Tod ihrer Mutter ist sie jedoch noch mehr in sich gekehrt und noch blasser geworden, sodass sie beinahe durchsichtig wirkt. Rabenschwarze Locken hangen ihr in die ubergro?en Augen.
Wahrend der letzten drei Tage hat sie kaum ein Wort von sich gegeben. Naturlich sind das au?ergewohnliche drei Tage gewesen – und traumatische Erlebnisse haben auf Kinder einen anderen Effekt als auf Erwachsene. Aber Brian macht sich Sorgen, dass Penny vielleicht in eine Art von Schockzustand verfallen konnte.
»Wird schon, Kleine«, flustert er ihr zu und hustet leise.
Ohne aufzuschauen gibt sie etwas Unverstandliches von sich; es ist wie ein Murmeln.
»Was hast du gesagt, Pen?« Brian halt sie eng an sich gedruckt, schaukelt sie sanft hin und her, bemerkt ihre Tranen und wischt sie ihr aus dem Gesicht.
Dann sagt sie es erneut, immer und immer wieder. Doch ihre Worte sind nicht an Brian gerichtet. Es ist eher wie ein Mantra oder ein Gebet. Wie eine Beschworungsformel »Es wird niemals wieder werden, niemals.«
»Still, Kleine.« Er halt ihren Kopf und druckt ihn eng an sein T-Shirt, spurt die feuchte Warme ihres Gesichts