Bobby hort auf der Stelle mit dem Kichern auf.
Von der gegenuberliegenden Wand aus neben einem Fenster, das einen Blick auf den nachtdunklen gro?en Innenhof gewahrt, beobachtet ein vierter Mann unruhig das Geschehen. Nick Parsons, ein weiterer Freund aus Philips missratener Kindheit, ist ein kompakter, schlanker Typ um die drei?ig mit einem jungenhaften Auftreten und einer Frisur, mit der er in die Marine gepasst hatte. Er wirkt wie eine Sportskanone. Als der einzig Religiose der Gruppe hat Nick langer als alle anderen gebraucht, sich an die Idee zu gewohnen, Kreaturen abzuschlachten, die einmal Menschen gewesen waren. Jetzt sind seine Kakihose und Turnschuhe blutbesudelt, und seine Augen sind starr vor Schock, wahrend er Philip nachsieht, wie dieser auf Bobby zugeht.
»Tut mir leid, Mann«, stammelt Bobby.
»Meine Tochter ist da drin und hat Todesangst«, knurrt Philip, halt wenige Zentimeter vor Bobby an und starrt ihm in die Augen. Diese explosive Mischung aus Zorn, Panik und Schmerz kann Philip Blake in Sekundenschnelle die Kontrolle verlieren lassen.
Bobby starrt auf den blutigen Fu?boden. »Tut mir leid, tut mir wirklich leid.«
»Hol die Plane, Bobby.«
Keine zwei Meter entfernt kauert Brian Blake noch immer auf Handen und Knien und wurgt die letzten Reste heraus, bis nichts mehr ubrig ist.
Philip tritt zu seinem alteren Bruder und kniet sich neben ihn. »Raus damit.«
»Ich … Oh …«, krachzt Brian und zieht den Rotz hoch, wahrend er krampfhaft versucht, einen klaren Gedanken zu fassen.
Philip legt seine gro?e, schmutzig schwielige Hand auf die Schultern seines Bruders. »He, mach dir nichts daraus, Bruderherz … Nur immer raus damit.«
»Es tut mir … mir so l-leid.«
»Ist nicht wichtig.«
Brian fangt sich allmahlich und wischt sich den Mund mit dem Handrucken ab. »Glaubst du, du hast sie alle erwischt?«
»Ja.«
»Sicher?«
»Klar.«
»Hast du das … das ganze Haus durchsucht? Auch den Keller und so?«
»Yes, Sir. Samtliche Raume. Selbst auf dem Speicher haben wir nachgeschaut. Der letzte Zombie hat sich aus seinem Versteck gewagt, als er deinen verdammten Husten gehort hat. Der ist ja auch laut genug, um Tote zu wecken. Es war ein junges Madchen, das anscheinend Appetit auf Bobbys Doppelkinn hatte.«
Brian schluckt. Sein entzundeter Hals kratzt und tut weh. »Diese Leute … Sie … Sie haben hier gelebt.«
Philip seufzt. »Jetzt nicht mehr.«
Brian schafft es, sich einmal kurz umzublicken, ehe er zu seinem Bruder aufsieht. Sein Gesicht ist tranenfeucht. »Aber das war … Es war eine Familie.«
Philip nickt schweigend. Am liebsten wurde er seinen Bruder an den Schultern packen und schutteln: Na und? Aber stattdessen nickt er erneut. Er denkt weder an die untote Familie, die er gerade ins Jenseits befordert hat, noch an die emotionalen Folgen des furchtbaren Gemetzels, das er wahrend der letzten drei Tage angerichtet hat – das Abschlachten von Menschen, die einmal Mutter, Brieftrager, Tankstellenwarte gewesen waren. Gestern noch gab Brian irgendeinen Bockmist zu Moral und Ethik angesichts dieser Situation von sich. Er meinte, moralisch gesehen durfe man nicht toten, und zwar niemals. Aus ethischer Sicht jedoch – und das sei ein gro?er Unterschied – konne man das Toten zur Selbsterhaltung durchaus rechtfertigen. Philip halt das Ganze allerdings gar nicht fur Toten. Schlie?lich kann man etwas nicht umbringen, das bereits umgebracht wurde. Man macht vielmehr kurzen Prozess damit, wie man es mit einem Insekt tut. Auf jeden Fall darf man nicht so viel nachdenken!
Tatsachlich denkt Philip im Augenblick so gut wie gar nicht nach – nicht einmal daruber, was seine kleine bunt zusammengewurfelte Truppe als Nachstes machen soll, obwohl das hochstwahrscheinlich allein seine Entscheidung sein wird – schlie?lich ist er der inoffizielle Anfuhrer dieses Haufens, und je fruher er sich damit abfindet, desto besser. Fur den Augenblick konzentriert sich Philip Blake jedoch nur auf eines: Seitdem dieser Albtraum vor weniger als zweiundsiebzig Stunden angefangen hat und Menschen ganz einfach zu Monstern werden – aus bisher unerfindlichen Grunden –, gibt es fur Philip Blake kein anderes Ziel mehr, als seine Tochter Penny in Sicherheit zu bringen. Deswegen ist er auch so schnell es ging vor zwei Tagen aus seiner Heimatstadt Waynesboro gefluchtet.
Die Gegend, ein Farmerstadtchen am ostlichen Rand von Georgia, war im Handumdrehen zur Holle gefahren, als die Menschen dort zuerst starben, dann aber plotzlich wieder vor den Lebenden standen. Es war jedoch vor allem Pennys Wohlbefinden gewesen, was Philip dazu gebracht hatte, von dort zu verschwinden. Und wegen Penny hatte er sich auch an seine alten Schulkameraden gewandt. Wegen Penny waren sie nach Atlanta gefahren. Dort sollten namlich den Nachrichten im Fernsehen zufolge Fluchtlingslager aufgebaut werden. Alles nur wegen Penny. Sie ist das Einzige, was Philip noch geblieben ist. Sie ist es, die ihn noch aufrecht erhalt – der einzige Trost fur seine geschundene Seele.
Lange, ehe diese unerklarliche Epidemie uber das Land hereingebrochen ist, schreckte ihn eine Leere in seinem Herz jeden Morgen um drei Uhr aus dem Schlaf. Genau um drei Uhr morgens verlor er seine Frau. Kaum zu glauben, dass es schon vier Jahre her ist. Das Ganze geschah auf einem regennassen Highway sudlich von Athens. Sarah hatte eine Freundin an der Universitat von Georgia besucht und etwas Alkohol getrunken, ehe sie auf der kurvigen Stra?e in Wilkes County die Kontrolle uber das Auto verlor.
Von jenem Moment an, als er die Leiche identifiziert hatte, wusste Philip, dass sich sein Leben grundlegend geandert hatte. Er hatte keine Probleme damit, das zu tun, was getan werden musste: Er nahm einen zweiten Job an, um Penny alles geben zu konnen wie zuvor. Dennoch wurde es nie mehr so sein wie zuvor. Vielleicht ist das der Grund fur all das, was jetzt passierte. Ein kleiner Scherz von Gott. Wenn Heuschreckenplagen uber das Land kommen und Blut die Flusse rot farbt, nimmt der Mann, der am meisten zu verlieren hat, das Ruder in die Hand.
»Ist doch egal, wer sie einmal waren«, sagt Philip schlie?lich. »Oder was sie einmal gewesen sind.«
»Hm … Vielleicht hast du recht.« Mittlerweile hat sich Brian wieder etwas besser im Griff. Er sitzt mit uberkreuzten Beinen auf dem Boden und atmet tief ein und aus. Er wirft einen Blick auf Bobby und Nick, die jetzt eine gro?e Plane ausrollen und Mullsacke bereitlegen. Dann schleppen sie die triefenden Leichen auf die Plane.
»Das Einzige, was jetzt zahlt, ist aufraumen«, gibt Philip zu bedenken. »Wir konnen heute Nacht hier bleiben. Und wenn wir morgen fruh Benzin auftreiben, fahren wir bis nach Atlanta weiter.«
»Das macht keinen Sinn«, murmelt Brian und starrt auf die Leichen.
»Was soll das hei?en?«
»Schau sie dir doch an.«
»Was?« Philip wirft einen Blick uber die Schulter auf die grausigen Uberreste. Nick und Bobby sind gerade dabei, die Frau in die Plane einzupacken. »Was soll sein?«
»Das ist eine Familie.«
»Na und?«
Brian fangt wieder zu husten an und halt sich dann den Armel vor den Mund, um ihn daran abzuwischen. »Was ich damit sagen will … Wir haben eine Mutter, einen Vater und vier Kinder im Teenageralter … Fallt dir nichts auf?«
»Nein. Was soll mir auffallen?«
Brian blickt zu Philip hoch. »Wie kann so etwas passieren? Sind sie etwa alle auf einmal … Oder ist einer von ihnen gebissen worden und hat sich dann auf die anderen Familienmitglieder gesturzt?«
Philip uberlegt einen Moment. Schlie?lich denkt auch er in stillen Momenten durchaus daruber nach, was vor sich geht und wie dieser Wahnsinn uberhaupt angefangen hat. Doch dann langweilt ihn das Denken, und er meint: »Los, steh auf und fang endlich an, uns zu helfen.«
Es dauert eine Stunde, bis sie alles halbwegs aufgeraumt haben. Penny wartet die ganze Zeit uber in der Abstellkammer. Philip bringt ihr zwei Kuscheltiere aus einem der Kinderzimmer und verspricht ihr, dass sie bestimmt bald herauskommen darf. Brian wischt das Blut auf und kampft dabei immer wieder gegen seine Hustenanfalle an, wahrend die anderen drei verpackte Leichen – zwei gro?e und vier kleinere – aus der hinteren Schiebetur auf die Zedernholzveranda schleppen.
Es ist Ende September, und der klare Nachthimmel wirkt eisig wie ein schwarzer Ozean. Unzahlige Sterne